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Geschichte Geschichte: Die stille Heldin aus Leipzig

Von MICHAEL KRASKE 10.10.2008, 19:23

LEIPZIG/MZ. - Ein schwerer Holzschreibtisch sieht aus, als habe der Leipziger Nachkriegsbürgermeister Erich Zeigner hier gerade noch gearbeitet. Frank Kimmerle, Vorsitzender des Vereins Erich-Zeigner-Haus, führt durch Räume, die aussehen wie damals, als sich hier Nazi-Gegner trafen, um Juden zu helfen. Kimmerle zeigt auf den Tisch: "Hier saßen sie zusammen. Zeigner mit Sozialdemokraten, Kommunisten, Christen. Eine aus diesem Kreis war Johanna Landgraf." Heute wird sie 100 Jahre alt.

Die Mutter starb, als Johanna Landgraf 15 war, der Vater umsorgte sie. Nebenher kümmerte sich die jüdische Familie Boritzer um sie. Mit deren Tochter Regina freundet sie sich an. Landgraf arbeitet sich vom Lehrling zur Sekretärin beim Gaswerk hoch. Durch die Boritzers macht sie schicksalhafte Begegnungen: Mit dem früheren sächsischen Ministerpräsidenten Erich Zeigner, einem Sozialdemokraten, der nach einer Koalition mit der KPD im Jahr 1923 politisch kaltgestellt ist. Sie wird ihn verehren. Und mit Käthe Leibel, der Freundin einer Freundin.

Hitler wird Kanzler, Boritzers emigrieren. Käthe Leibel verliert ihre Wohnung, wird in einem "Judenhaus" mit anderen zusammen gepfercht, bis zu sechs Familien in eine Wohnung. Landgraf trifft Leibel, die mittlerweile den zweijährigen Sohn Jochen Richard hat, im Februar 1943. Leibel steht auf einer "Transportliste II", soll sich zur Deportation stellen. Landgraf warnt: "Du kommst ins KZ nach Auschwitz, ihr werdet ermordet, tauch unter."

Sie bringt Käthe Leibel zu Zeigner, zu Pater Aurelius Arkenau, beschwört die Freundin. Stunden vor der Deportation holen sie einige Sachen aus dem "Judenhaus", Leibel schreibt einen Abschiedsbrief, täuscht Selbstmord vor. Am 17. Februar fahren von einem Leipziger Bahnhof 1 500 Juden nach Auschwitz, viele werden sofort vergast.

Landgraf organisiert mit Zeigner und Arkenau die Flucht. Die beiden Männer werden von der Gestapo verhört, geschlagen, verraten aber nichts. Landgraf denkt sich eine Lüge aus. Sie quartiert Mutter und Sohn getrennt bei Frauen ein, deren Männer im Krieg sind. Das größte Risiko ist der Sohn. Seine Traurigkeit kann alle verraten. Denunzianten könnten folgern: Fremdes Kind, Judenkind.

Landgraf muss neue Verstecke finden, wenn ein Soldat auf Heimaturlaub kommt. Dann lässt sie ihre Arbeit liegen und holt die zwei ab. Der Junge schwebt in Todesgefahr, ohne es zu wissen. "Ich habe an vieles keine Erinnerung", erzählt Jochen Leibel. Heute wohnt Leibel in Frankreich, wo er seine Frau kennen lernte. Seine Kindheit hat er sich wie ein Puzzle zusammen gesucht, weil die Mutter lange schwieg. Einzelne Bilder sind geblieben: "Ich sehe vor mir, wie ich im Garten der Familie Hering spiele." Wohl kurz nach der Flucht aus dem "Judenhaus". Traurigkeit und Angst sind gelöscht. Erst als Erwachsener hat er erfahren, wie nah ihnen die Gestapo kam. "Unsere Helfer hatten ideologische Gegensätze. Aber alle waren Humanisten", sagt Leibel. Landgraf wird später oft über diese Zeit sprechen. Auf die Frage, warum sie tat, was sie tat, antwortete sie stets: "Sie war eine Freundin, da konnte ich doch nicht zusehen."

Historiker bezeichnen jene, die Juden halfen und versteckten, als "Stille Helden". Der Historiker Wolfgang Benz schätzt die Zahl der Juden, die so den Holocaust überlebten, auf einige Zehntausend. Er recherchierte etwa 3 000 Menschen, die halfen.

Leipzig wird 1943 als Versteck zu gefährlich. Landgraf schickt Käthe Leibel und ihren Sohn zu Verwandten nach Thüringen. Die Odyssee führt beide bis nach Innsbruck, ohne gültige Ausweise. Pater Arkenau und Landgraf organisieren in Berlin neue Papiere, Käthe Leibel erhält ihre neue Identität per Brief. Arkenau organisiert eine letzte Adresse: Die Leibels reisen zur Familie Koch nach Halle, gläubigen Katholiken, bei denen sie im Gärtnerhaus wohnen. Käthe Leibel, die jetzt Helga Rousseau heißt, arbeitet im Betrieb mit. Mit dem Einmarsch der US-Soldaten können Mutter und Sohn schließlich 1945 ihr Versteck verlassen.

Johanna Landgraf wurde nach dem Krieg Zeigners Sekretärin. Sie heiratete nie, eigene Kinder hatte sie nicht. Später wurde sie Lehrerin für behinderte Schüler, als Rentnerin betreute sie die Kinder im Hort. Bis vor wenigen Jahren bewohnte Landgraf ein Zimmer in der alten Wohnung ihres Mentors Zeigner.

Johanna Landgraf ist die letzte aus dem Kreis der Helfer. Zeigner starb bald nach dem Krieg, Pater Arkenau 1991. Zum 100. Geburtstag will Jochen Leibel aus Frankreich kommen, zum ersten Mal mit seinem Sohn. Sie wollen bei Johanna Landgraf sitzen, so lange es ihre Kraft erlaubt. Sie werden auf den Friedhof gehen, wo Leibel vor Jahren die Gräber seiner Großmutter und Ur-Großmutter entdeckte. Leibel wird in Leipzig feiern und trauern. Zu Hause wartet dann Arbeit. Seit Monaten sammelt er Aussagen, Indizien und Belege. Er setzt sich dafür ein, dass Johanna Landgraf von der Gedenkstätte Yad Vashem in Israel als "Gerechte unter den Völkern" geehrt wird.