Geschichte Geschichte: Das kleine Ghetto in der Nachbarschaft
Leipzig/ddp. - Mehr als 200 Menschen haben hier gelebt.«Überlebt» muss man eher sagen, und das auch nur für kurze Zeit. Woheute in der Humboldtstraße 15 in Leipzig rund 50 Leute wohnen,drängten sich nach 1939 jüdische Bewohner auf engstem Raum.«Judenhaus» hieß dies im NS-Jargon und es war so etwas wie einkleines Ghetto: Zusammenpferchen und bereithalten zur Deportation. ImLeipziger Stadtbild erinnert bislang so gut wie nichts an dieseHäuser - das wollen Schüler der Goldschmidt-Schule jetzt ändern. AmMontag bieten sie als Teil der Jüdischen Woche erstmals einenStadtrundgang zu elf der ehemals 47 «Judenhäuser» in Leipzig an.
Werner Jonas lebte in den 1940er Jahren in dem Haus in derHumboldtstraße. Zusammen mit seiner Frau Lisbeth und deren SchwesterRosa mussten sie sich ein einziges Zimmer teilen. Aufgrund des«Gesetzes über die Mietverhältnisse mit Juden» von 1939 war ihnenihre frühere Wohnung gekündigt worden, wie allen Juden der Stadtteilte ihnen die Gestapo dann ein Zimmer in einem der «Judenhäuserzu», erklärt Jana Wacker, die das Projekt in Zusammenarbeit mit demKulturamt der Stadt und der Israelitischen Religionsgemeinde Leipzigauf die Beine gestellt hat. Das Leben war geprägt von erdrückenderEnge, einander völlig fremde Menschen mussten sich eine Wohnungteilen, Warmwasser gab es aufgrund der geringen Zuteilung vonHeizmaterial an Juden so gut wie nie, mangelnde Hygiene leisteteschweren Krankheiten Vorschub.
Mehr als 12 000 jüdische Einwohner zählte Leipzig 1925, dieGemeinde war damit die sechstgrößte im Deutschen Reich. ZahlreicheHäuser und Geschäfte waren im Besitz von Juden, das bevorzugteWohnviertel lag zwischen Innenstadt und Rosenthal-Park inunmittelbarer Nähe zu ihren Geschäften und den beiden Synagogen. Vondiesem vielfältigen jüdischen Leben in Leipzig ist nicht vielgeblieben. Wer nach 1933 nicht auswanderte oder untertauchte, wurdeabtransportiert. Die Leipziger Stadtchronik nennt heute elfDeportationen in die Vernichtungslager. Überlebt haben nur rund 220.Heute zählt die jüdische Gemeinde in Leipzig wieder rund 1300Mitglieder, die meisten von ihnen Zuwanderer aus der ehemaligenSowjetunion.
Zu der ersten Führung entlang der «Judenhäuser» haben sich fürMontag ehemalige jüdische Bewohner angemeldet, die zur JüdischenWoche Leipzig besuchen. Eigentlich aber richtet sich die Führung anjunge Leute. «Wir haben vor zwei Jahren bemerkt, dass die meistenAngebote der Jüdischen Woche von Alten für Alte gemacht werden», sagtder Leiter der Goldschmidt-Schule, Eberhard Ulm, von der 36 Schülerdas «Judenhäuser»-Projekt realisiert haben. «Wir wollten die Jungenan das Thema heranführen.» Die Erfahrung zeige, dass vielemittlerweile den Holocaust als ein Geschichtsthema unter vielenbetrachten. «Dabei haben wir es hier, vor unserer Haustür», erklärtUlm. Die Original-Haustüren, die die Gestapo damals eintrat, dieOriginal-Zimmer, aus denen die Menschen getrieben wurden.
In der Humboldtstraße 15 zerrte die Gestapo die Bewohner im Juli1942 aus dem Haus. Am 13. Juli verließ der Zug mit insgesamt 170jüdischen Bewohnern die Stadt, das Ziel der Deportation ist heutenicht mehr bekannt. Werner Jonas hatte zuvor noch bei Freunden undBekannten Butter zusammengebettelt für seine Tbc-kranke Frau, erzähltProjektleiterin Wacker. Es hat ihnen nichts genützt, die Familieüberlebte den Holocaust nicht. In der Humboldtstraße leben heuteSingles, Paare und Familien, das Gebäude ist - wie die meistenehemaligen «Judenhäuser» - frisch saniert und ein beliebtes Zuhause.