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Gedanken zum Anschlag in Istanbul Gedanken zum Anschlag in Istanbul: Der Feind in uns

Von Arno Widmann 13.01.2016, 19:57
Türkische Zeitungen trauern auf Deutsch.
Türkische Zeitungen trauern auf Deutsch. FotoMontage: MZ/Bernd martin Lizenz

Halle (Saale) - Über die Hintergründe des Anschlags in Istanbul wissen wir nichts. Die türkische Regierung erklärt, es handele sich um einen Attentäter der Gruppe Islamischer Staat. Er sei in Saudi-Arabien geboren, heißt es. Saudi-Arabien erklärt, er sei Syrer. Abgesehen davon, dass das kein Widerspruch sein muss, wundert es einen dann doch, woher Saudi-Arabien das wissen möchte. Die Geheimdienste sollen die Polizei gewarnt haben. Hat die Polizei etwas tun können? Hätte sie etwas tun können? Wir wissen es nicht. Wir mögen bezweifeln, dass die Tat von einem einzigen Attentäter ausgeführt wurde, aber noch einmal: Wir wissen es nicht. Zielte der Anschlag auf die Türkei, auf Touristen oder gar auf deutsche Touristen? Gehört dieser Anschlag in eine Reihe mit dem Anschlag vor dem Hauptbahnhof in Ankara, bei dem einhundert Menschen umgebracht wurden? Wir wissen es nicht.

Was wir derzeit wissen

Diese vier Wörter sind der basso continuo dieses Kommentars. Also kann man hier aufhören, weiterzulesen. Und wendet sich denen zu, die Bescheid wissen über die Hintergründe des Anschlags. Wenn man das tut, sollte man nicht vergessen: Wissen tun sie es auch nicht. Alles, was wir derzeit haben, haben wir von der türkischen Polizei, den türkischen Geheimdiensten, den türkischen Behörden. Das sind Quellen, die es zuletzt immer wieder für wichtiger erachteten, Kurden statt den IS zu bekämpfen.

Der Anschlag in Istanbul erfolgte an einer Stelle, die viele von uns kennen. Istanbul gehört zu den weltweit beliebtesten Reisezielen, und kaum ein Besucher lässt sich die Hagia Sophia oder die Blaue Moschee entgehen. Millionen Touristen standen schon dort, wo am Dienstagmorgen die Reisegruppe eines Berliner Veranstalters zu Tode gebracht wurde. Viele von uns können sich erinnern, wie sie vor der Hagia Sophia den Erklärungen eines Reiseführers zuhörten oder sich lesend aufklären ließen über diesen Ort, der, bevor er ein Museum wurde, eine Moschee war, die nichts als die Umwidmung einer einst christlichen Kirche gewesen war. Kein Dokument des friedlichen Zusammenlebens, sondern des Kampfs der Kulturen, in dem mal der eine, mal der andere gewann.

Kein Erfolg im "Krieg gegen den Terror"

Wenn wir auch so gut wie nichts wissen über die Hintergründe des Anschlags, so wissen wir doch genau, dass der 2001 erklärte „Krieg gegen den Terror“ den Terror nicht besiegt hat. Kein Land dieser Erde – auch die USA nicht – ist in den vergangenen Jahrzehnten sicherer geworden. Es hat lange gedauert, bis die deutsche Politik zugab, dass sie in Afghanistan einen Krieg führt. Es wird noch einmal sehr lange dauern, bis sie zugeben wird, ihn verloren zu haben. Das wäre aber die erste Voraussetzung für eine Analyse, warum sie ihn verloren hat. Das Gleiche gilt für den Krieg gegen den Terror. Er ist so wenig zu gewinnen wie der gegen die Drogen. Wer nur auf die Anschläge des Terrorismus sieht, der geht ihm in die Falle.

Terroristen tun so, als wären sie Krieger. Wir erinnern uns, dass die Terroristen der RAF damit scheiterten, als Kombattanten anerkannt zu werden. Der Bundesaußenminister hat vom „Krebsgeschwür des Terrorismus“ gesprochen. Es ist politisch nicht korrekt, aber die Wendung schickt die Gedanken in die richtige Richtung. Das Krebsgeschwür ist kein Fremdling, der unseren Körper gekapert hat, sondern es sind unsere eigenen Zellen, die sich gegen uns wenden. Wir müssen gegen sie vorgehen, wir müssen sie bekämpfen, aber wir müssen sie, wenn wir das effektiv tun wollen, begreifen. Mit „search and destroy“ ist niemandem wirklich geholfen. Dieses Verfahren zielt auf die Vernichtung von Kräften des Gegners, nicht auf die „Kontrolle eines Gebiets“.

Gedanken in den Köpfen der Menschen

Letzteres aber muss das Ziel sein, wenn wir den Terrorismus wirklich los werden wollen. Das Terrain, auf dem wir ihn schlagen müssen, sind die Gedanken in den Köpfen der Menschen. Das „wissen wir nicht“ ist wichtig, damit wir, während Militär und Polizei ihre Arbeit tun, nicht aufhören, nach den Ursachen zu suchen.

Ein erster Schritt wäre zu begreifen, wie sehr unsere Zellen längst mit den Zellen scheinbar weit entfernter Körper auf anderen Kontinenten verbunden sind. Wo bisherige Zusammenhänge zerstört werden, brechen nicht nur Staaten, sondern auch Individuen zusammen. Der Terrorismus ist einer der Versuche, beides wieder neu zusammenzubauen. Es kommt darauf an, dass andere Versuche sichtbar erfolgreicher sind. Der Terrorismus ist ein Zerfallsprodukt. Wir müssen ihn bekämpfen. Die Kettenreaktion darf nicht verstärkt, sie muss unterbrochen werden. Das geht nur durch Einbeziehung der sich spaltenden Teilchen. (mz)