Fußball-EM Fußball-EM: Halle (Saale) für alle
Halle (Saale)/MZ. - In Magdeburg ist das Leiden groß. Europameisterschaft in Polen und der Ukraine, erstes Spiel und erster Schock für die Fußballfans an der Elbe. Da hinten hängt sie wieder: Weißer Stoff, schwarze Schrift, sieben Zeichen, ein Punkt. "Halle / S." steht auf dem Banner am Zaun. Fußballanhänger in Magdeburg, für die die Saalestadt traditionell das Reich des Bösen ist, sind stinksauer. Und neidisch. "Diese olle Fahne sticht mir unangenehm ins Auge", heißt es im Fanboard des FCM.
Ganz anders in Halle, der Stadt, für die die Fahnenträger seit 15 Jahren weltweit Werbung machen. Länderspiele des deutschen Nationalteams sind hier längst verbunden mit dem traditionellen Wettsuchen: Wo hängt sie diesmal? Hinterm Tor? Hinter der Eckfahne? Auf der Geraden?
Klar ist nur, sie ist da. Immer. Bei jedem Wetter. Bei jedem Spielstand. Egal ob bei einem Freundschaftsspiel in China oder im WM-Halbfinale. Halle / S. gehört zu deutschen Länderspielen wie weiße Trikots und schwarze Hosen.
1997 begannen die beiden Hallenser, die sich Journalisten gegenüber Alexander Rabe und Tobias Möhring nennen, zu Fußballspielen zu fahren und dabei eine Fahne aufzuhängen. Die hatte Möhrings Oma genäht: Schwarze Buchstaben auf weißem Grund sagen knapp und rätselhaft "Halle / S." - nur echt mit Punkt. Über die Jahre wurden die beiden Fahnenträger fester Bestandteil der Auftrittsroutine der DFB-Elf. Wo die aufläuft, gehören ein paar Quadratmeter Zaun dem Stück Stoff, das auf den Heimatort von Rabe und Möhring verweist.
Eine Weltreise vor aller Augen, die allerdings nicht zum Ruhm des Fußballstandorts Halle unternommen wird. Die beiden Fahnenväter sind bekennende Fans des 1. FC Union Berlin, der eine wohnt inzwischen in Leipzig, der andere in Filderstadt bei Stuttgart. "Aber Halle ist unsere Heimat, wir sind stolz auf sie, und das zeigen wir halt", sagt Tobias Möhring, der im Internet unter dem Namen "Chelski" schreibt.
Müsste das Stadtmarketing der Saalestadt für die Media-Leistung zahlen, die die beiden Freiwilligen erbringen, wäre die Stadtkasse schnell am Ende. Im Viertelfinale der WM 2006, als Torwart Jens Lehmann den 5:3-Sieg über Argentinien im Elfmeterschießen festhielt, war Halle / S. eine Viertelstunde lang im Bild. Durch den Film "Ein Sommermärchen" wurden daraus Minuten für die Ewigkeit. Bei der WM in Südafrika schafften Möhring und Rabe 30 von 64 Spielen, sie absolvierten mehr als 30 000 Kilometer und ließen Fans daheim in Halle allabendlich staunen: "Da ist sie ja schon wieder!"
Neben dem Magdeburger Nationalspieler Marcel Schmelzer ist die Fahne derzeit der einzige Beitrag Sachsen-Anhalts zum deutschen Spitzenfußball. Längst hat das Tuch mehr Länderspieleinsätze als Lukas Podolski und im Internet mehrere Seiten, die ihre Stationen nachzeichnen. "Habt ihr die Halle-Fahne gesehen", fragt Nicklas in einem Forum von Wismut-Aue-Fans. "Die ist bei jedem Spiel dabei", staunt ein Dortmund-Anhänger in einem Board, in dem selbst ernannte "Ultras" sich über Rituale abseits des Rasens austauschen.
"In den letzten Jahren haben wir kein Spiel mehr verpasst", sagt Tobias Möhring. Fahnenhoppern wie ihm und seinem Freund geht es nicht um persönlichen Ruhm oder Prominenz, sondern um Beachtung für das zehn Quadratmeter große Stück Stoff, dessen Dauerpräsenz auch bei der EM in Polen und der Ukraine wieder zehntausende Fernsehzuschauer beschäftigt. Eben noch beim Eröffnungsspiel in Warschau, hing die Fahne am Tag danach bei der deutschen Begegnung in Lemberg. Tag drei sah sie mitten im irischen Fanblock in Posen, es folgte ein Auftritt beim 2:1 der Ukraine gegen Schweden in Kiew und der Pflichttermin beim deutschen Treffen mit den Niederlanden in Charkow.
3 500 Kilometer haben Rabe und Möhring nach einer Euro-Woche zurückgelegt. Rund 1,2 Milliarden Menschen haben in dieser Zeit ihre Halle-Werbung gesehen. Auch im Rathaus der Saalestadt ist das Banner nicht unbemerkt geblieben. "Ich habe das natürlich gesehen", sagt Oberbürgermeisterin Dagmar Szabados. Dann habe sie sich erklären lassen, dass zwei Ex-Hallenser dahinterstecken. "Ich freue mich nun bei jedem Spiel, bei dem ich die Fahne entdecke, über den Werbeeffekt für die Stadt". Klasse findet sie das: "Toll, dass sich Fußballbegeisterung und Lokalpatriotismus so geschickt verbinden."
Schon einige Zeit sind die Halle-Botschafter mit ihrer Mission nicht mehr allein. Fahnen wie "Air Bäron", die aus dem Erzgebirge stammende "Thalheim"-Fahne oder das von dem fanatischen Dortmund-Anhänger Fabian "Borsti" Ludwig ruhelos durch die Fußballwelt transportierte "Borsti"-Banner wetteifern in jedem Spiel mit den Hallensern darum, wer den besseren Platz ergattert. Ein Kampf, der auf Dauer nur wenige Gewinner kennt. Waren zur WM in Südafrika noch zahlreiche Fahnenträger aus Mitteldeutschland am Start, die die Blicke der Welt etwa auf "Naumburg", den Halleschen FC und das kleine Laucha an der Unstrut richteten, hält derzeit nur noch Halle / S. die Fahne Sachsen-Anhalts regelmäßig hoch. Der Kampf ist hart, die Reisen sind teuer.
Nur wenige Fahnenhopper schaffen es wie Rabe und Möhring oder der Hamburger "Air-Bäron"-Erfinder Frank Niemann, wirklich bekannt zu werden. Es muss vieles so zusammenpassen, wie es beim Halle / S.-Team eben passt. Ihre Eintrittskarten bekommen sie über den "Fan-Club Deutsche Nationalmannschaft" beim Deutschen Fußball-Bund. "Dort kennt man uns, das erleichtert vieles", beschreibt Rabe. Glücklicherweise arbeitet sein Freund Tobias Möhring am Flughafen in Stuttgart, wo er günstig an Flugtickets kommt. Rabe selbst hat in Leipzig einen Job als Kundenbetreuer. Dennoch heißt es nach jedem Turnier sparen für die nächsten Reisen. Denn ob es regnet, schneit oder die Sonne brennt, ob die DFB-Elf gewinnt, verliert und am Ende ins Finale kommt: Als Fahne wird Halle / S. dabei sein.