Förderschulen Förderschulen: Erlass zur Betreuung reißt Lücken
Halle (Saale)/MZ. - Die Verständigung zwischen der neunjährigen Emely und ihrer Mutter funktioniert auf bemerkenswerte Weise ohne große Worte: Ein Zeichen oder auch nur einkurzer Laut -und Jana Kloppe weiß, was ihre Tochter vermitteln will. Neuerdingskann Emmy, wie sie überall genannt wird, "Oma" und "Opa" sagen. Was für Zweijährige kein Problem ist, bereitet ihr große Anstrengungen: Das Mädchen hat einen extrem seltenen Stoffwechseldefekt, der den gesamten Körper beeinträchtigt. "Sie kann nur wenig sprechen und wird oft nicht verstanden", erzählt ihre Mutter. Ein Kind, das rund um die Uhr betreut werden muss. Nach der Schule, in den Ferien. Und genau da liegt für Jana Kloppe, gelernte Krankenschwester, eine riesige Herausforderung im Alltag.
Denn was in Sachsen-Anhalt die Betreuung der Kinder nach dem Unterricht in Förderschulen für Geistigbehinderte und in den Ferien angeht, gibt es auch mit einem neuen Erlass des Kultusministeriums Probleme. Dabei sollte dieser eigentlich einen verlässlichen Rahmen und damit Entlastung schaffen. Stattdessen sind neue Betreuungslücken entstanden. Für viele Eltern hat sich damit die Situation sogar verschärft.
Länger an Unterricht gebunden
In dem Erlass werden die Unterrichtszeiten durch ein neues Blocksystem bis 14.30 beziehungsweise 15 Uhr gestreckt. Dann werden die Kinder bis maximal 16 Uhr betreut, was auch von den Fahrunternehmen abhängt, die sie nach Hause bringen. Die für die Betreuung eingesetzten pädagogischen Mitarbeiter sind durch die veränderte Unterrichtsstruktur länger gebunden: Das heißt: Die Zeit, die sie mehr im Unterricht verbringen, fehlt für die Betreuung - etwa in Arbeitsgemeinschaften oder den Ferien. Individuelle Lösungen, die vor dem Inkraftreten des Erlasses im August oftmals gefunden wurden, sind kaum noch möglich.
Erschwerend hinzu kommt der Wegfall von Zivildienstleistenden. Lerntherapeutische Angebote, bei denen der Stoff wiederholt und gefestigt werden soll, müssen häufig zurückgefahren werden. Verpflichtend sind sie ohnehin nicht mehr: In dem Papier findet sich nur eine Kann-Bestimmung, wonach sich solche Angebote unter anderem nach den personellen Möglichkeiten vor Ort richten.
Ihren Job im Drei-Schicht-System hat Jana Kloppe Anfang des Jahres aufgegeben und arbeitet heute - mit finanziellen Einbußen - in einer Tagschicht als Stationsassistentin. Zum Glück, sagt die 35-jährige aus der Gemeinde Muldestausee (Anhalt-Bitterfeld), habe ihr Arbeitgeber ihr diese Möglichkeit eingeräumt. Denn zuvor, damals war sie alleinstehend, habe sie "zwei Jahre Chaos" mitgemacht, um ihre Tochter betreuen zu können. "Wenn ich Nachtschicht hatte, hieß das vier Stunden schlafen, weil am frühen Nachmittag bereits der Schulbus mit Emmy kam", erzähltsie. Immer wieder sprangen ihre Eltern ein, sie engagierte ein Kindermädchen. Dass sie sich auch in den Ferien auf die Unterstützung ihrer Familie - von den Eltern bis zum Ex-Partner - verlassen kann, ist eine große Erleichterung, sagt sie. "Anders ginge es gar nicht."
Eine Lösung für das Dilemma hat man auch im Magdeburger Kultusministerium nicht parat. Hintergrund ist ein Wust aus Zuständigkeiten. Ministeriumssprecher Philipp Hoffmann verweist auf das Kinderförderungsgesetz (KiföG), wonach Kinder bis zur Versetzung in die siebte Klasse zwar einen Rechtsanspruch auf Betreuung haben. Dafür sei aber nicht das Ministerium zuständig, sondern Schulträger und Kommunen. Eingliederungshilfen der Sozialämter oder Hilfen zur Erziehung von den Jugendämtern können gewährt werden.
Das Kultusministerium sei allein für die lerntherapeutischen Angebote verantwortlich, die stets an den Unterricht gebunden sind. "Diese Angebote wurden in der Vergangenheit offenbar immer wieder zur Ferienbetreuung genutzt, das war aber noch nie Sinn der Sache", so Hoffmann. Das Sozialministerium verweist derweil nur auf das Landesschulgesetz, wo es zu Förderschulen heißt: "Bei Bedarf ist ein Schulhort einzurichten."
Dass das Thema viele bewegt, zeigen die Briefe und Anrufe von betroffenen Eltern zu dem Erlass und den Betreuungsproblemen, die in den vergangenen Monaten im Kultusministerium ankamen. "Wir haben sie angeschrieben und ihnen den Sachverhalt erklärt", sagt Behördensprecher Hoffmann. Was den Familien erst einmal nicht wirklich weiterhelfen dürfte.
"Wenn es keine schnellen Änderungen gibt, werde ich meine Arbeit aufgeben müssen", sagtDoreen Scheffler, die mit Jana Kloppe und anderen betroffenen Eltern im Kreis Anhalt-Bitterfeld vor einigen Wochen die Selbsthilfegruppe "Kinderseelen" gegründet und eine Massenpetition gestartet hat. Diese soll bis zum "Tag der Menschenrechte" Mitte Dezember laufen. Darin fordern sie, dass die Betreuung geistig behinderter Förderschüler nach der Schule und in den Ferien klar geregelt wird. Mehr als 1 000 Unterschriften haben sie bislang gesammelt. Und: "Sie glauben nicht, wie viele Betroffene sich bei uns gemeldet haben", sagt Doreen Scheffler. Neben Eltern aus dem Landkreis Anhalt-Bitterfeld seien etwa auch Hallenser, Dessauer, Wittenberger und Quedlinburger dabei gewesen.
Verkürzte Arbeitszeiten
Als ihr Sohn Hendrik vor vier Jahren in die Schule kam, musste die Diplom-Kommunikationswirtin aus Ramsin (Anhalt-Bitterfeld), die in Leipzig arbeitet, ihre Arbeitszeit um fünf Stunden pro Woche reduzieren. Nun hat die zweifache Mutter, deren Mann als Polizist im Schichtdienst arbeitet, um weitere fünf Stunden verkürzt. Und weiß trotzdem nicht, wie sie die Betreuung ihres Sohnes bewerkstelligen soll, der infolge einer Hirnblutung nach einer Frühgeburt geistig und sehbehindert ist.
In neun Ferienwochen hänge er mit der neuen Regelung gewissermaßen in der Luft. Zwar hat der Zwölfjährige laut KiföG rein rechtlich einen Anspruch auf Betreuung, doch faktisch gebe es keine Angebote - etwa in integrative Horte. Zudem stelle sich die Frage, was mit älteren Kindern sei, die keinen Betreuungsanspruch haben. All das verstoße gegen die UN-Behindertenrechtskonvention.
"Die Träger der Jugendhilfe sind auf diese Zielgruppe noch nicht vorbereitet", sagt Katja Pietsch vom Verband Sonderpädagogik in Sachsen-Anhalt, der den Erlass auch wegen der Ausdehnung des Schultages kritisiert: Dieser sei für einige der Förderschüler so kaum zu bewältigen. Sollen geistig behinderte Kinder in Regeleinrichtungen wie Horten mitbetreut werden, so brauche man zusätzliches und entsprechend ausgebildetes Personal, sagt Pietsch, die Lehrerin an einer Förderschule für Geistigbehinderte ist. Vielerorts seien die Gebäude zudem nicht barrierefrei.
Der Landesbehindertenbeauftragte Adrian Maerevoet, der an der Erarbeitung des Erlasses nicht beteiligt wurde, will sichbeim Kultusministerium dafür einsetzen, dass die Ferienbetreuungdurch qualifiziertes Personal als Pflicht formuliert wird. "Meine Forderung ist, dass an den Förderschulen verbindlich Horte installiert werden." Zwar gebe es den Anspruch der Inklusion, also der vollen Einbeziehung in die Gesellschaft - was für eine gemeinsame Betreuung in Regeleinrichtungen sprechen würde. Doch die Förderschüler nachmittags für ein, zwei Stunden und zeitweise in den Ferien in andere Einrichtungen zu schicken, sei wenig sinnvoll. In der eigenen Schule wären sie nicht nur in der gewohnten Umgebung - dort wisse man auch, was am Tag los war und welcher Unterrichtsstoff behandelt wird.
Ähnlich siehtdas der hallesche Elternverein Lebens(t)raum, der Familien mit behinderten Kindern unterstützt und einen integrativen Hort aufgebaut hat: "Es braucht inklusive Einrichtungen in den Förderschulen, die Bildung, Betreuung und Freizeitgestaltung anbieten", sagt Geschäftsführer Horst Nenke. Und Doreen Scheffler bringt es in einer Mischung aus Verdruss und Verzweiflung auf den Punkt: "Ich brauche kein Mitleid, sondern Rahmenbedingungen, in denen ich leben kann."