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Flüchtlinge Flüchtlinge: Diskussion um neues Einbürgerungsrecht entfacht

Von HENDRIK KRANERT-RYDZY 17.02.2013, 18:00
Ungewisse Zukunft: Norbert Abramow und drei seiner Kinder
Ungewisse Zukunft: Norbert Abramow und drei seiner Kinder ULI LÜCKE Lizenz

MAGDEBURG/MZ. - Grau. Grau ist der Plattenbau, der wie ein Fremdkörper in einem heruntergekommenen Teil von Magdeburg-Buckau steht. Grau, nicht weiß, sind die alten, beschmierten Raufasertapeten im Flur hinauf in den ersten Stock. Grau wirkt auch Norbert Abramow (Name geändert), als er seine Geschichte erzählt. Es ist eine Geschichte, die kein Schwarz kennt und kein Weiß. Sie beginnt mit einer Flucht aus Armeniens Hauptstadt Jerewan und endet beinahe tödlich, als die sechsköpfige Familie vor knapp drei Wochen abgeschoben werden soll und Melitta Abramow aus Verzweiflung versucht, sich in der Magdeburger Uniklinik das Leben zu nehmen.

Norbert Abramow sitzt auf einer speckigen Ledercouch im Wohnzimmer, der einzige Wertgegenstand hier neben dem Fernseher. Der 34-Jährige ist allein, die Kinder sind noch in der Schule, seine Frau noch im Krankenhaus. „Sie kann heute raus, wenn sie dafür unterschreibt“, sagt er und zieht an einer Zigarette. Eigentlich gehört die 32-Jährige weiter in stationäre Behandlung. Melitta Abramow, die natürlich auch anders heißt, leidet nach einem nervenärztlichen Gutachten unter dem Posttraumatischen Belastungssyndrom. Eine Erkrankung, die sonst oft bei Soldaten nach Kampfeinsätzen diagnostiziert wird. Bei Frau Abramow war es nicht Krieg, sondern die Verfolgung als Minderheit, die wohl die Krankheit auslöste.

Die Abramows sind Jesiden, eine kurdische Volksgruppe mit einer eigenen Religion. „Jesiden werden doppelt verfolgt“, sagt Kamal Sido, Nahostexperte bei der Gesellschaft für bedrohte Völker in Göttingen. Verfolgt als Ungläubige von den übrigen muslimischen Kurden. Und von den Armeniern nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion als Mitschuldige am Völkermord an den Armeniern im Osmanischen Reich. „Es gibt keine systematische staatliche Verfolgung, wohl aber Ausgrenzung und Diskriminierung“, sagt Sido.

Norbert Abramows Schilderungen scheinen das zu bestätigen, wenngleich sie sich nicht überprüfen lassen: Sie hätten das Haus seiner Frau in Jerewan verkaufen wollen, um sich mit dem Geld im russischen Krasnodar eine neue Existenz aufzubauen. Nach dem Ende der Sowjetunion ein Weg, den viele Jesiden aus Armenien einschlugen, vor allem Intellektuelle. Doch der Hausverkauf geht schief, die Eigentumsurkunde habe zwar den Besitzer gewechselt, doch Geld sei nie geflossen, sagt Abramow.

Später fliegen Steine

Als die Familie sich weigert auszuziehen, hagelt es erst Drohungen, später fliegen Steine. Die Chancen, als Jeside sein Recht in Armenien zu bekommen, stünden schlecht, bestätigt Menschenrechtler Sido: „Armenien ist zwar eine Demokratie, doch mit der Rechtsstaatlichkeit ist es nicht weither.“

In Krasnodar soll alles besser werden: Norbert heiratet dort 2002 Melitta, so geht es aus der beglaubigten Kopie der Heiratsurkunde hervor. Das Papier wird - wie Abramows ebenfalls beglaubigte Kopie seines russischen Passes - später enorme Bedeutung für die Familie erlangen. Doch in Krasnodar habe er Ärger mit der russischen Mafia bekommen, erzählt der Möbeltischler. Als er nicht mehr bereit und in der Lage gewesen sei, das monatliche Schutzgeld zu zahlen, geht seine Werkstatt in Flammen auf. Die Familie entschließt sich erneut zur Flucht - nach Deutschland, wohin inzwischen 40 000 bis 60 000 der insgesamt 800 000 Jesiden weltweit immigriert sind.

Möglich war dies, weil die Jesiden anfangs in Deutschland den Status einer verfolgten Gruppe genossen - und damit automatisch Asyl bekamen. Doch die Zeiten sind lange vorbei, als die Abramows - das vierte Kind ist inzwischen unterwegs - im September 2005 in Magdeburg eintreffen. Bereits ein Jahr nach ihre Ankunft wird daher der Antrag auf Asyl vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge abgelehnt. „Die Situation in Armenien hat sich für die Jesiden verbessert“, sagt eine Behördensprecherin knapp. Zum Einzelfall will sie sich nicht äußern.

Freiwillig ausreisen will Familie jedoch nicht. Die Magdeburger Ausländerbehörde leitet daher „aufenthaltsbeendende Maßnahmen“ ein, wie es im Behördendeutsch heißt. Was schwierig ist, da die Abramows ihre wahre Identität verschleiern. Das ist bei Asylverfahren nichts ungewöhnliches, sagt der Magdeburger Landtagsabgeordnete Sören Herbst (Grüne): „Natürlich ist das ganz und gar nicht in Ordnung, aber viele Asylsuchende machen das, um ihre Abschiebung so lange wie möglich zu verhindern.“ Not macht erfinderisch. Und gilt gleichzeitig als wesentlicher Abschiebegrund. Warum die Ausländerbehörde jedoch sage und schreibe vier Jahre braucht, um mit einem Sprach- und Schriftgutachten festzustellen, dass die Familie aus einem Staat der ehemaligen Sowjetunion stammt, bleibt schleierhaft. Angeblich habe es Probleme mit Terminen in der Botschaft gegeben, sagt die Stadtverwaltung. Das Bundesamt für Migration aber weiß von solchen Probleme nichts. Nachdem der ersten noch weitere Expertisen der russischen und der armenischen Botschaft gefolgt sind, ist im Sommer 2012 nach Ansicht der Magdeburger Ausländerbehörde zweifelsfrei klar, dass die Abramows aus Armenien kommen.

Am 25. September vergangenen Jahres, mehr als sieben Jahre nach ihrer Einreise, folgt die endgültige Feststellung, wohin die Reise für die zwei Erwachsenen und die vier Kinder geht - zurück nach Jerewan, nach Armenien. Ein Land, das zwei der vier Geschwister - die jüngste Tochter ist sechs - nur aus den in jesidischem Dialekt geführten Erzählungen ihrer Eltern kennen. Aber auch den anderen beiden Kindern - die älteste Schwester ist 16 - ist das Land fremd geworden. Alle vier Kinder gelten als voll integriert, sie gehen zur Schule und sprechen fließend Deutsch. Aber kein Armenisch oder Russisch.

Drei Fakten zählen

Für die Behörden zählt das nicht - sondern drei andere Fakten: Die gefälschten Identitäten, mehrfache rechtskräftige Verurteilungen wegen Diebstahls - und ein fehlender Asylgrund. Norbert Abramow bestreitet die Vorwürfe nicht: Ja, er habe gestohlen. „Aus Frust, weil ich nicht arbeiten darf.“ Wer sich im Asylverfahren befindet, unterliegt einem Arbeitsverbot - nach der Ablehnung des Antrags hat sich die Jobsuche ohnehin erledigt.

Die Abramows reichen Klage gegen die Abschiebung ein, doch die hat keine aufschiebende Wirkung. Zudem legt Abramow nun die Kopie der Heiratsurkunde und seines Passes vor. Beides weist ihn als russischen Staatsbürger aus - was nach Ansicht des Magdeburger Flüchtlingsrates eine Abschiebung nach Armenien ausschließt. „Es gibt definitiv Widersprüche zwischen den Bescheiden der Behörden und den Papieren von Herrn Abramow“, sagt Francoise Greve vom Flüchtlingsrat. Doch die Stadt Magdeburg interessiert das nicht.

Anfang November 2012 teilt man der Familie mit, dass sie ab Dezember mit der Abschiebung rechnen müsse. Einen konkreten Termin nennen Vertreter der Ausländerbehörde jedoch erst, als sie am frühen Morgen des 31. Januar zusammen mit Polizisten - insgesamt sind es zehn Behördenvertreter - mit einem Generalschlüssel in die Wohnung der Familie eindringen. Man drückt Abramow den Abschiebebescheid in die Hand, ausgestellt am selben Tag. Ein Novum, das selbst im Innenministerium für Kopfschütteln sorgt. Üblicherweise gibt es zwei Wochen vorher eine Ankündigung, damit die Betroffenen sich darauf einrichten oder den Rechtsweg beschreiten können.

Kinder werden geweckt

„Wir wollen verhindern, dass die Betroffenen untertauchen“, begründet Oberbürgermeister Lutz Trümper (SPD) den neuen Weg. Trümper gibt auch zu Protokoll, dass an diesem Tag nichts passiert sei, „wofür ich aus meiner Sicht meine Behörde kritisieren müsste“. Die Familie wird angewiesen ihre Koffer zu packen. Die vier Kinder, das jüngste sechs und das älteste 16, werden geweckt. Die drei Mädchen und der Junge schlafen in einem Zimmer - in einem Doppelstockbett und auf zwei Matratzen auf dem Fußboden. Es gibt Tränen, es wird laut.

Der Vater beschimpft laut Protokoll die Beamten; die Mutter geht wenig später im Flur zur Boden. Ob es ein vorgetäuschter Schwächeanfall ist oder ein tatsächlicher Nervenzusammenbruch, bleibt wie so vieles in der Geschichte ungeklärt. Während Melitta Abramow in die Klinik gebracht wird, rollt ein Kleinbus mit den Kindern und dem mit Handschellen gefesselten Vater zum Flughafen Berlin-Schönefeld. Im Krankenhaus, so der Vorwurf Abramows, zählen die Ärzte nach Rücksprache mit Polizei und/oder der Ausländerbehörde der Mutter zwei Möglichkeiten auf: Entweder sie verlasse jetzt das Krankenhaus, um mit ihrer Familie nach Armenien auszureisen. Oder sie bleibe allein in Deutschland zurück. Tatsächlich, so ergeben MZ-Recherchen, lässt die Magdeburger Ausländerbehörde absichtlich Druck auf die Frau ausüben.

Für die Behörden steht viel auf dem Spiel: Seit Wochen sind sechs Tickets für den Flug nach Armenien gebucht, ein Arzt ist organisiert, der die kranke Mutter begleiten soll, auch Beamte der Bundespolizei stehen bereit. Der Erpressungsversuch ist zu viel für die psychisch ohnehin angeschlagene Frau: Sie greift nach einer Schere und versucht sich die Pulsadern aufzuschneiden.

In Berlin passieren derweil Abramow und seine Kinder nach eigenen Angaben die Sicherheitsschleuse. „Wir hätten sie nicht getrennt abgeschoben“, sagt Trümper später. Fakt ist: Auf jeden Fall war der Kleinbus mit fünf der sechs Familienmitglieder auf dem Weg nach Berlin. Wozu, wenn nicht zur getrennten Abschiebung? Um Druck auf Melitta Abramow auszuüben, hätte es auch gereicht, den Kleinbus zwei Querstraßen neben dem Klinikum zu parken.

Minister fragt nach

Erst nach dem versuchten Suizid stoppt die Ausländerbehörde die Abschiebung. Das Vorgehen der Stadt löst in Sachsen-Anhalt eine Debatte aus. Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) fragt öffentlich, ob das deutsche Asylrecht noch zeitgemäß ist. Und die Abramows? „Es geht uns schlecht“, sagt Abramow, die Kinder litten extrem unter der Situation. Einerseits freue er sich, dass seine Frau aus dem Krankenhaus zurückkehrt. Andererseits wächst damit wieder die Angst. Melitta Abramow ist jetzt wieder transportfähig. Und bislang hat die Familie kein behördliches Dokument, das bestätigt, dass die Abschiebung weiter ausgesetzt ist.