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Eltern-Kind-Gespräch zur Einheit Eltern-Kind-Gespräch zur Einheit: "Es war ein unwahrscheinlich lustiges Land"

Von Anne Schneemelcher 02.10.2015, 15:33
"Warum bist du eigentlich nicht viel eher abgehauen?" Volontärin Anne Schneemelcher im Gespräch mit ihrem Vater
"Warum bist du eigentlich nicht viel eher abgehauen?" Volontärin Anne Schneemelcher im Gespräch mit ihrem Vater Andreas Stedtler Lizenz

Quedlinburg - Anne Schneemelcher: Ich weiß noch ganz genau, wo ich war, als die Flugzeuge am 11. September ins World Trade Center krachten. Weißt du, wo ich war, als die Mauer geöffnet wurde?

Frank Schneemelcher: Du warst vermutlich im Kindergarten.

Du weißt es nicht genau?

Na ja doch. Du hast ja an dem Tag dein ganz normales Leben gelebt. Also bist du früh vergnügt in den Kindergarten gegangen und hattest einen schönen Tag. Die Mauer wurde ja abends geöffnet.

Wo warst du denn?

In einer Bundeswehrkaserne in einer Panzerdivision in Aalen in Bayern. Ich saß da in einer überfüllten Turnhalle mit 400 anderen Menschen. Die Halle war mit provisorischen Trennwänden ausgestattet und es lief ein Fernseher. Als ich da mal nebenbei draufgeguckt habe, habe ich gesehen wie Menschen über die Mauer klettern. Ein Unding! Irgendwas haute da nicht hin. Nachdem ich begriffen hatte, was da passierte, wollte ich wieder nach Hause, denn die Gründe waren in diesem Moment nichtig, warum ich dieses Land verlassen habe. Und ich muss dir sagen, es war eine der wichtigsten Entscheidungen meines Lebens, wieder nach Hause zu fahren.

Wie kamst du überhaupt nach Bayern?

Ich bin mit einer kleinen Gruppe und meinem besten Freund früh um vier aus Quedlinburg gestartet. Wir sind mit dem Trabi über Tschechien in den Westen. Zu der Zeit waren ja schon viele Ventile geöffnet und es gab keine verschärften Grenzkontrollen mehr. Nach einigen Registrierungen war ich – zack – in der besagten Kaserne.

Und wer hat das organisiert?

Organisiert wurde das von einem damaligen Restaurantleiter, der, wie sich später heraus stellte, bei der Stasi war. Das war schon komisch. Weil wir dachten ja die ganze Zeit, dass wir ihm trauen konnten. Aber da haben wir uns alle ganz schön geirrt. Der hat unsere Reise wahrscheinlich gleich noch protokolliert.

Habt ihr ihn zur Rede gestellt?

Nee. Der war dann weg. Der hat die Stadt dann auch relativ schnell verlassen – vermutlich auch in Richtung Westen...

Ist dein Freund eigentlich auch mit dir mit zurück?

Nein. Unter Protest der 400 anderen in dieser Turnhalle, bin ich allein mit meinem Trabi in Richtung DDR gefahren. Es war einfach niemand in diese Richtung unterwegs. Mein bester Freund hat der Sache und dem alten Regime in keiner Weise getraut und ist zwei Jahre geblieben. Dann kam er auch zurück.

Wärst du auch ohne ihn geflüchtet?

Nein. Weil so eine Flucht musste gut vorbereitet sein. Du hast ja davor deine Dinge regeln müssen. Ich habe zum Beispiel Geld und Eigentum gesichert. Das konntest du ja nur mit jemanden besprechen, zu dem du blindes Vertrauen hattest. Ich habe nur mit deiner Mutter und meinem besten Freund darüber gesprochen, noch nicht einmal mit meinen Eltern.

Warum nicht mit deinen Eltern? Mir würdest du es doch auch übel nehmen, wenn ich einfach von heute auf morgen nicht mehr hier in Deutschland leben würde.

Das kannst du so nicht vergleichen. Wenn du mir heute sagen würdest, du gehst nach Amerika oder so, dann gebe ich dir noch 100 Euro für die Reise mit. Aber genau das war ja unmöglich. Außerdem mussten wir damit rechnen, dass eine Familienzusammenführung Jahre dauert. Deine Mutter und ich hatten viele Gespräche und wir haben uns letztendlich dafür entschieden, dass wir die Zeit ohne einander in Kauf nehmen. Ich wollte mir im Westen Arbeit suchen und euch möglichst schnell nachholen. Wir hatten Angst, dass meine Eltern uns das ausreden würden. Deswegen haben wir es ihnen nicht gesagt. Sauer waren sie übrigens auch nicht. Am ersten Tag als ich weg war, hat mich noch nicht mal jemand vermisst. Am zweiten habe ich angerufen. Da hat es mein Vater sogar ganz gut verkraftet. Na ja - und am dritten Tag war ich ja schon wieder da.

Auf der nächsten Seite: "Westen war Musik, Konsum und Coca-Cola."

Warum bist du eigentlich nicht viel eher abgehauen?

Da kommen meine Freunde ins Spiel. Wären sie nicht gewesen, hätte ich die DDR auch eher verlassen. Aber wir haben versucht, uns über die Jahre mit der Situation zu arrangieren. Ich meine, kein Mensch verlässt freiwillig seine Familie und sein Land! Aber eine persönliche Entwicklung war hier einfach nicht möglich und ich wollte mich immer selbstständig machen. Deswegen bin ich alle Wege gegangen, die in der DDR möglich waren - leider ohne Erfolg.

Woher wusstest du, dass du deinen Freunden vertrauen kannst, wenn du noch nicht mal bemerkt hast, dass der Flucht-Organisator bei der Stasi war?

Meine Freunde kannte ich von klein auf. Ihre Eltern waren mit meinen befreundet. Die kannten sich untereinander und wussten, wem sie vertrauen konnten. Also konnte ich ihren Kindern trauen. Du darfst auch nicht vergessen, dass sich auch die Großeltern schon untereinander kannten, weil die zusammen nach dem Zweiten Weltkrieg aus Sudeten-Deutschland her kamen.

Fragst du mich deshalb immer, was die Eltern meiner Freunde machen?

Das könnte sein, dass es damit was zu tun hat. Meine Eltern haben ja auch immer gefragt, was die Eltern machen. Und bei Lehrern und Polizisten klingeln bei mir immer noch die Alarmglocken - auch wenn das heute gar nichts mehr über einen Menschen aussagt.

Sind deine Freunde von damals die von heute geblieben?

Eigentlich schon. Ich kann aber die, denen ich noch heute blind vertraue, an einer Hand abzählen. Aber das hat etwas damit zu tun, dass Freundschaften heute eine ganz andere Bedeutung für mich haben. Dein Schicksal ist ja nicht mehr abhängig von denjenigen, die dich umgeben. Damals hing mehr davon ab. Es war wichtig zu wissen, wem man was sagen konnte. Eine unbedachte Äußerung konnte dein ganzes Leben schlagartig von heute auf morgen verändern.

Du musstest also immer abwägen, was du erzählen kannst und was nicht. Hast du dich viel verstellt?

Ja – aber ich habe das nicht als schlimm empfunden. Irgendwie hatte es was Spannendes. Und aus heutiger Sicht muss ich sagen: Es war ein unwahrscheinlich lustiges Land, in dem ich da gelebt habe. Ich erinnere dich nur an Wuschel aus dem Film „Sonnenallee“. Als er angeschossen wird und sich nicht freut, dass er überlebt hat, sondern tief traurig ist, weil jetzt sein Stones-Doppelalbum zerschossen ist - das war mein Leben. Besser hätte man es nicht darstellen können, als in dieser Szene. Aus heutiger Sicht völlig witzig. Aber genau diese Bedeutung hatte die Platte für uns. Dafür sind wir kilometerweit gefahren, obwohl wir uns das Ding reell gar nicht leisten konnten...

Hat euch das verbunden?

Wir haben für nichts anderes gelebt als für den Westen. Wir waren so dicht dran an der Grenze. Du konntest im Harz ja quasi rüber gucken. Die Nähe war äußerst präsent. Deswegen wollten wir da alle weg. Wir hatten uns eine Parallelwelt erschaffen - das kannst du dir heute gar nicht mehr vorstellen.

Wie sah eure Parallelwelt aus?

Wir haben uns für vieles eine Symbolik geschaffen: Westen war Musik, Konsum und Coca-Cola. Solche Dinge verbinden mich bis heute mit Freunden. Damals waren wir beruflich völlig unterfordert, deswegen hatten wir einen florierenden Schwarzmarkt in der DDR. Nach Feierabend wurde doppelt so viel produziert, wie am Tag. Wenn es offiziell keine Kotflügel gab, kanntest du jemanden, der gleich mal zehn Stück hatte. Derjenige wollte dann dafür eine Bleiverglasung. Bis heute kaufe ich bei ihm Autoteile. Wir arbeiten alle noch zusammen – oft ohne Vorverträge – Handschläge und mündliche Zusicherungen reichen. Wir haben uns damals nicht übers Ohr gehauen und machen es bis heute nicht. (mz)