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Im Viehtransport nach Auschwitz Ede und Unku: So erlebte das Sinti-Mädchen Unku den Nazi-Terror

Von Julius Lukas 12.03.2018, 08:00
Vermutlich 1937 entstand in Dessau das Foto von Unku.
Vermutlich 1937 entstand in Dessau das Foto von Unku. University of Liverpool Library

Berlin - Ihren 23. Geburtstag erlebt Erna Lauenburger auf dem Weg ins Vernichtungslager Auschwitz. Mit Hunderten Sinti und Roma wurde sie in Magdeburg in einen Zug gesperrt.

Die Waggons haben keine Fenster, es sind Viehtransporter. Auch ihre Mutter, ihre Großmutter und viele Verwandte sind in dem überfüllten Zug. Und ihre beiden Kinder: die vierjährige Marie und die gerade mal fünf Monate alte Bärbel.

Drei Tage dauert die Fahrt. Am 5. März 1943 erreichen sie das Lager. Sie werden in Baracken gebracht und bekommen Nummern in die Haut tätowiert. Erna Lauenburger und Marie in den Oberarm: Z 633 und Z 635. Die kleine Bärbel in den Oberschenkel, weil nur dort genug Platz ist: Z 634. Das „Z“ steht für „Zigeuner“.

Erna Lauenburger war Vorbild für den Kinderroman „Ede und Unku“

Erna Lauenburger ist besser bekannt unter ihrem Sinti-Namen Unku. Sie ist das Vorbild für die Titelheldin des Kinderromans „Ede und Unku“. In der DDR war das Buch ab 1972 Pflichtlektüre in der fünften Klasse. Millionenfach wurde es gedruckt und gelesen. Die Abenteuer, die Unku darin mit ihrem Schulfreund, dem Arbeiterjungen Ede Sperling, erlebt, basieren auf wahren Begebenheiten.

Unku hatte sich 1929 als Mädchen in Berlin mit der Autorin Grete Weiskopf angefreundet. Viele Nachmittage verbrachten sie zusammen. Oft waren auch Verwandte und Freunde wie Ede bei den Treffen dabei. Aus den Gesprächen schreibt Weiskopf ihr Buch, das sie 1931 unter dem Pseudonym veröffentlicht.

Bücher über „Ede und Unku“ wurde von den Nazis verbrannt

Es ist von der Klassenkampf-Ideologie der damaligen Zeit geprägt: Als Edes Vater arbeitslos wird, weil ihn eine Maschine ersetzt hat, will sein Sohn durch Zeitung austragen die Familie unterstützen. Unku hilft ihm dabei. Dann verstecken die beiden noch den Vater eines Freundes. Der wird von der Polizei gesucht, weil er einen Streik organisiert hat.

Weiskopf, die Mitglied in der Kommunistischen Partei war, wollte ein Buch mit aufrechten Kinder-Helden schreiben. 1933 war „Ede und Unku“ einer der Romane, die bei der Bücherverbrennung der Nazis im Feuer landeten.

Jazz-Musiker schreibt noch einmal ein Buch über Unku, seiner Ur-Großcousine 

Jetzt hat Janko Lauenberger ein Buch geschrieben, es erzählt die Geschichte seines Großvaters und auch seine eigene Geschichte. Vor allem aber handelt es von Erna Lauenburger, von Unku, seiner Ur-Großcousine. Janko Lauenberger ist Jazz-Musiker, auch sein Großvater hatte eine Markierung auf dem linken Arm: Z 539. Auschwitz ist nicht das einzige KZ, in dem er inhaftiert war: Mittelbau Dora, Sachsenhausen, Buchenwald. Er überlebt sie alle.

„Hätte er das nicht überstanden, wäre ich heute nicht da“, sagt Lauenberger. Er sitzt vergangene Woche in der Wissenschaftlichen Bibliothek Dessau, um aus seinem Buch zu lesen, das er mit der Journalistin Juliane von Wedemeyer geschrieben hat.

Unkus Geschichte reicht viel weiter als der Kinderroman

Dass Unku mit ihm verwandt ist, wusste Janko Lauenberger. Seine Großmutter war deren Cousine. Das aus Lauenburger der Name Lauenberger wurde, geht auf die Nachlässigkeit eines Beamten im Nachkriegsdeutschland zurück. Trotz ihrer Verwandtschaft wusste Janko Lauenberger aber lange nicht viel über das Leben der Romanheldin.

Im Jahr 2013 meldet sich dann Juliane von Wedemeyer bei ihm. Sie will einen Beitrag über das bekannte Mädchen schreiben. „Wir haben schnell gemerkt, dass Unkus Leben eine Geschichte ist, die weit über den Kinderroman hinaus reicht“, sagt Wedemeyer.

Ab 1936 galt Unku als „minderwertig und artfremd“

Sie beginnen die Stationen des Sinti-Mädchens zu besuchen: Berlin, Dessau, Magdeburg und Auschwitz. Sie hören zig Zeugengespräche und verbringen Tage in Archiven, wo sie Polizei- und SS-Akten lesen. „Unku wurde immer echter“, sagt Juliane von Wedemeyer. „Und sie ist ja auch echt, das ist alles wirklich passiert. Und es ist so pervers.“

Grete Weiskopf verwendet das Wort „Zigeuner“ in ihrem Kinderbuch „Ede und Unku“ (Foto), in vielen Liedern kommt der Ausdruck vor und selbst einer Schnitzel-Variante gibt er einen Namen. Das Wort ist im deutschen Sprachschatz vorhanden und wird verwendet - warum sollte sich daran etwas ändern?

Janko Lauenberger sagt: „Ich hasse das Wort Zigeuner. Menschen verändern sich, sobald sie mich für einen halten.“ Lauenberger ist ein Sinto, er ist also Teil der Minderheit, die unter dem Wort „Zigeuner“ gefasst wird. Für ihn ist der Ausdruck stark aufgeladen. Er impliziere Klischees, wie: „Zigeuner“ entführen Kinder oder bringen Krankheiten mit sich. Der Ausdruck grenze aus. „Dabei sind die Sinti und Roma schon vor 700 Jahren aus Indien nach Europa gekommen und leben seitdem hier“, sagt Lauenberger und fragt dann: „Ob das Wort weg kann? Ja, es kann weg.“ 

Das Leben Unkus entrollt sich vor den beiden Autoren. Und sie fügen es zu einem Buch zusammen, dessen Detailreichtum oft grausam ist und tief berührt. Sie schildern die weitestgehend unbeschwerte Kindheit in Berlin. Wie sich die Situation der Sinti und Roma zuspitzte, nachdem die Nazis an die Macht kamen.

Ab 1936 galt Unku als „minderwertig und artfremd“ - so sagten es die Nürnberger Rassengesetze. Im Juni 1936 verfasste der SS-Reichsführer Heinrich Himmler den „Runderlass zur Bekämpfung der Zigeunerplage“. Beschimpfungen, Durchsuchungen und sogar Sterilisationen von Sinti-Frauen folgten. Für die Olympischen Spiele wurden die Sinti und Roma aus Berlin vertrieben. Unku war mit ihrer Familie zu dieser Zeit bereits in Dessau. Sie verbrachten dort die letzten halbwegs selbstbestimmten Tage.

Unku und ihre Familie werden ins Sammellager nach Magdeburg abgeschoben

In Dessau lernte Unku auch den zwei Jahre älteren Otto Schmidt kennen. Mucki - so sein Sinto-Name - mochte ihr Lachen, sie sein dunkles Gesicht. Die beiden verliebten sich, wurden ein Paar und Unku schwanger. Ende 1937 trat in Anhalt ein Aufenthaltsverbot für Sinti und Roma in Kraft. Unku, Mucki und ihre Familien werden in ein Sammellager nach Magdeburg abgeschoben.

Für den Musiker Janko Lauenberger wird die Beschäftigung mit Unkus Leben auch zu einer Auseinandersetzung mit seiner eigenen Familiengeschichte. Als Kind verbrachte er viel Zeit bei seinem Großvater in Berlin. „Er verbot mir immer, bei den deutschen Kindern zu spielen“, erzählt Lauenberger. Damals habe er das nicht verstanden. „Heute weiß ich, dass er einfach Angst um uns hatte.“

In der Nazi-Zeit habe er viel Leid ertragen müssen. „Erzählt hat er davon nie viel, aber er durchlebte die Momente immer wieder: die Erniedrigungen, die Zwangsarbeit, den Verlust seiner Eltern und seiner sieben Geschwister im KZ.“

Auch Janko Lauenberger kennt Beleidigungen als „Zigeuner“

Es sind Erfahrungen, die sich auch auf die nächsten Generationen übertragen. Anfang der 80er Jahre kommt Janko Lauenberger in Ost-Berlin in die Schule. Schon am ersten Tag wird er dort als „Zigeuner“ beschimpft. Lauenberger wehrt sich: „Ich habe mich fast jeden Tag geprügelt“, erzählt er.

Nicht immer sei er als Sieger aus den Kämpfen hervorgegangen. Einmal nimmt ihn ein älterer Schüler in den Schwitzkasten, geht zu einem Wasserhahn, dreht ihn auf und sagt: „Das ist ein Gashahn, so haben wir das früher mit euch gemacht“, erzählt der Autor von dem Vorfall.

Sinti wie Unku galten unter dem Nazi-Regime als „asozial und arbeitsscheu“

Früher geschah aber noch anderes Unbegreifliches. 1937 war das Magdeburger Lager, in das Unku mit anderen Sinti und Roma ziehen musste, trostlos. Ein Acker, 26 Wohnwagen, ein Brunnen und eine Grube für die Fäkalien. Im Juni 1938 wurden Mucki und weitere Männer festgenommen. Eine vorbeugende Maßnahme, wie es hieß. Sinti galten als „asozial“ und würden deswegen „zu Verbrechen neigen“.

Die Nazis brachten Mucki nach Buchenwald. Dort erfuhr er, dass er Vater geworden war. Am 25. August 1938 brachte Unku Marie zur Welt. Mucki hat seine Tochter nie gesehen. Nach vier Jahren in einer Arbeitseinheit wurde sein Block für Impfstoff-Tests eingeteilt. Ärzte infizierten ihn mit dem Fleckfieber. Die meisten der 1.000 Versuchshäftlinge überlebten die Tortur nicht. Mucki zunächst schon. Als die Tests beendet waren, bekam er noch eine Spritze. Es war der 20. November 1942. Offizielle Todesursache: Lungenentzündung.

Kurz bevor Mucki starb, bekam Unku ihr zweites Kind: die kleine Bärbel. Wer der Vater war, hat Unku nie verraten. Sie musste als Zwangsarbeiterin Pferdedecken nähen und lebte von fünf Mark in der Woche. Ihr „Rassegutachten“ bezeichnete sie als „arbeitsscheu und asozial“. 1943 begann dann der Massenmord an den Sinti und Roma. Unku, ihre Verwandten und ihre Kinder wurden mit den Viehtransportern nach Auschwitz gebracht.

Unku und ihre beiden Kinder starben im KZ

Zwei Monate nachdem sie im Konzentrationslager angekommen sind, stirbt Bärbel - ausgetrocknet und unterernährt. Nach und nach folgen die anderen: Mutter, Großmutter, schließlich Marie. Die Fünfjährige kehrt aus dem Krankentrakt, der damals von dem berüchtigten KZ-Arzt Josef Mengele geleitet wird, nicht mehr zurück. Es ist März oder April 1944. KZ-Überlebende haben berichtet, dass Unku schreiend aus ihrer Baracke rannte, als sie vom Tod ihrer Tochter erfährt. Sie wird abgeführt. Wahrscheinlich setzt eine Spritze ihrem Leben ein Ende.#

Nach dem Krieg verfasste die Autorin Grete Weiskopf ein Vorwort für ihr Kinderbuch „Ede und Unku“. In dem steht, dass sie Ede Sperling wiedergetroffen habe. Der Arbeiterjunge von damals habe eine Frau und zwei Kinder. „In seinem bärtigen Männergesicht konnte ich die Spuren von Edes Kindergesicht noch deutlich erkennen.“

Weiskopf probiert auch Unku wiederzufinden. Doch sie hat bereits eine düstere Ahnung: „Ich fürchte meine Zigeunerfreunde sind nicht mehr am Leben. Die Hitler-Barbaren haben Juden und Zigeuner vergast, verjagt und erschossen.“ Erst kurz vor ihrem Tod wird Weiskopf im Jahr 1966 erfahren, wie recht sie mit ihrer düsteren Ahnung hatte.

››„Ede und Unku - die wahre Geschichte“ von Janko Lauenberger und Juliane von Wedemeyer ist im Gütersloher Verlagshaus erschienen und kostet 20 Euro. Die Autoren stellen ihr Buch am 17. März in der Stadtbibliothek Leipzig (21  Uhr) und am 18. März auf der Buchmesse (13 Uhr, Forum Sachbuch) vor. (mz)

Janko Lauenberger hat die Geschichte seiner Ur-Großcousine Unku aufgearbeitet. 
Janko Lauenberger hat die Geschichte seiner Ur-Großcousine Unku aufgearbeitet. 
Andreas Stedtler