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Dyskalkulie Dyskalkulie: Die Qual mit den Zahlen

Von CAROLINE HEBESTREIT 22.01.2010, 20:47

MAGDEBURG/MZ. - Doch was für viele Schüler Normalität ist, ist für Lena alles andere als das. Denn dem Mädchen wurde in der dritten Klasse Dyskalkulie, besser bekannt als Rechenschwäche, attestiert.

Probleme potenzieren sich

Dabei handelt es sich um eine Entwicklungsstörung, bei der den Betroffenen das Verständnis für Zahlbeziehungen, Rechenoperationen oder Mengen fehlt. Genaue Zahlen, für wie viele Grundschüler in Sachsen-Anhalt das gilt, gibt es zwar nicht. Doch der Leiter des Zentrums zu Therapie der Rechenschwäche Magdeburg (ZTR), Jürgen Retzlaff, geht davon aus, dass rund 25 Prozent aller Grundschüler betroffen sind. "Im Kern sind es reine Wissensdefizite, zumindest am Anfang", sagt er. Dies führe dazu, dass Kinder, wenn sie in die Schule kommen, eine Lernausgangslage haben, die in Mathematik nicht ausreicht, um den Schulstoff verstehen zu können. Werden diese Defizite nicht behoben, können auch neue Aufgabengebiete nicht verstanden werden - die Probleme potenzieren sich. Betroffene nutzten häufig Hilfsmittel wie ihre Finger, um Aufgaben zu rechnen, erkennen offensichtliche Fehler nicht, oder rechnen an Stellen, wo sich jedes Rechnen erübrigt.

Auch Lena zeigte solche Verhaltensweisen. Bereits Ende der ersten Klasse stellten sich Probleme ein, die über die eigentlichen Rechenschwierigkeiten hinaus gingen, erinnert sich ihre Mutter Daniela Heider-Wirrmann. "Sie fing an, Hefte und Bücher absichtlich zu vergessen, oder die Mathehausaufgaben zu verweigern", so die 34-Jährige. Später baute sich immer größerer seelischer Druck auf. Häufig litt Lena unter Bauch- und Kopfschmerzen, wollte nicht zur Schule oder weinte, wenn sie im Mathematikunterricht an die Tafel musste. "Ich hab mich irgendwie klein gefühlt", sagt das Mädchen. Dabei war Lena abgesehen von Mathe eine leistungsstarke Schülerin. Auch ihre Mutter war ratlos: "Ich habe einfach nicht verstehen können, wie das zustande kommt."

In zahllosen Gesprächen suchte sie Hilfe bei Lehrern und Schulleitung. Lenas Großvater, pensionierter Lehrer für Mathe und Physik, half dem Mädchen bei den Schularbeiten - ohne Erfolg. Erst in der dritten Klasse vermutete eine Lehrerin eine Rechenschwäche. Ein Test bestätigte die Annahme. "Das war sogar mir als Mathelehrer damals völlig neu", so Lenas Großvater Jürgen Heider.

Der 60-Jährige begann zu recherchieren, eignete sich eigene Methoden an, um mit Lena zu üben. Eine Therapie blieb dennoch unumgänglich. "Dyskalkulie ist grundsätzlich und in jedem Alter behandelbar", erklärt ZTR-Leiter Retzlaff. In einer Therapie kann der Betroffene mit Hilfsmitteln und individueller Betreuung seine Wissensdefizite aufarbeiten. Dabei ist es wichtig, dass die Betroffenen selbständig zu richtigen Schlussfolgerungen geführt werden.

Der Test kann von Diplompsychologen, privaten Instituten oder Schulpsychologen am Landesverwaltungsamt durchgeführt werden. Allerdings, warnt Schulpsychologin Karla Tonn, sei nicht jeder, der Schwierigkeiten beim Rechnen hat, von Dyskalkulie betroffen. Im Zweifel sei immer die Schule erste Anlaufstelle. "Die Früherkennung der Rechenschwäche ist von zentraler Bedeutung", betont Retzlaff. Dann könnten Betroffene noch unterhalb des Levels einer Therapie gefördert werden. Doch genau hier liegt das Problem. Denn noch weiß nicht jeder von der Existenz der Schwäche. Bei vielen bleibt sie daher unentdeckt.

So wie bei Robert S. (Name geändert), dem erst mit 19 Jahren eine Rechenschwäche bescheinigt wurde. Bis dahin war es ein beschwerlicher Weg. Erst in der Schule, später in der Ausbildung geriet er in Mathe immer mehr unter Druck. Mitschüler hänselten ihn, Lehrer warfen ihm Faulheit und Unwillen vor. "Ich bin dann in Panik geraten, habe immer mehr Druck aufgebaut und wollte irgendwann einfach nicht mehr", erzählt der junge Mann, der ansonsten gute Leistungen vorweisen kann. Was folgte waren ein Zusammenbruch und ein Aufenthalt in der Psychiatrie. Angestoßen von einem Zeitungsartikel vermutete eine Bekannte des heute 21-Jährigen eine Rechenschwäche. Ein Test brachte Gewissheit. Heute geht er einmal die Woche zur Dyskalkulie-Therapie. Erste Erfolge haben sich bereits eingestellt. "Ich habe inzwischen ein besseres Zahlenverständnis und kann zum Beispiel Kontoauszüge jetzt viel besser nachvollziehen." Wichtiger noch als die mathematischen Erfolge ist aber das zurückgewonnene Selbstvertrauen.

Aufwand lohnte sich

Das kann auch Lena nach einem Jahr Therapie für sich beanspruchen. Sie verdankt das nicht zuletzt ihrer Mutter. "Nach der Erleichterung, zu wissen, was Lena hat, kam der Schock", erinnert sich Daniela Heider-Wirrmann. Die Kosten für die Behandlung beliefen sich auf rund 240 Euro monatlich, die sich die vierköpfige Familie nicht leisten konnte. Sie stellte einen Antrag auf Unterstützung beim Jugendamt, das die Kosten übernimmt, sofern eine seelische Behinderung vorliegt oder droht. Etliche Formulare und ein psychologisches Gutachten müssen vorgelegt werden. Ein Aufwand, der viele Betroffene abschreckt. Nicht so Daniela Heider-Wirrmann. Für ein Jahr bekam Lena die Kosten größtenteils erstattet. "Heute bin ich froh, dass wir den ganzen Aufwand betrieben haben", sagt die Mutter. "Anders hätten wir es nie schaffen können."