Diesdorf Diesdorf: Leben wie vor hundert Jahren
Diesdorf/MZ. - Da, wo die Wiesen fett und die Felder fruchtbar sind, wo die Bäume sanft rauschen und die Ruhe einzigartig scheint, da ist der Flecken Diesdorf. Ganz im Nordwesten von Sachsen-Anhalt liegt jenes Dorf, das so dünn besiedelt ist wie nirgend sonst eine deutsche Gemeinde: 32 Einwohner leben dort pro Quadratkilometer.
Und doch ist in diesen Sommertagen ein reges Treiben in der rund 2 000 Seelen zählenden Gemeinde zu beobachten. Menschengruppen ziehen zum Ortsrand, Qualm steigt auf, man hört lautes Hämmern. Alle schauen wie gebannt auf das Feuer, neben dem der Blasebalg hängt. "Stahl ist butterweich", erklärt der Schmied Manfred Heiser zwischen zwei Schlägen auf das Metall - und ganz fest drückt er die Hände seiner Besucher.
Hier, im einzigen Freilichtmuseum Sachsen-Anhalts, ist Heiser ein Original. Als elfjähriger Junge hat er mit dem Schmieden begonnen, und 20 Jahre später wurde aus dem Hobby sein Traumberuf. Das Leben von einst zu zeigen, hat sich das Museum auf die Fahnen geschrieben. Da ist der 47-jährige Heiser ein Glücksfall für dieses Museum, in dem er seit 1985 arbeitet. Und er kann nicht nur schmieden. Er deckt Dächer mit Reet, er arbeitet am Fachwerk, er gibt als Mann für alle Fälle dem Dorf von einst ein neues Gesicht. "Mein Traumberuf", nennt er den Job.
Seit 1911 gibt es das Museum, das inzwischen mit jährlich insgesamt gut 20 000 Besuchern längst mehr als ein Geheimtipp ist. Damals eingerichtet von dem Diesdorfer Landarzt Georg Schulze, hatte es von Anfang eine Profession. Die hat es fast 100 Jahre, durch zwei Kriege und durch die Jahrzehnte als abgeschottetes Grenzgebiet, überleben lassen. "Die Vergangenheit zu bewahren und in die Zukunft zu tragen, ist unsere Aufgabe", nennt Friedhelm Heinecke, Leiter der Museen des Altmarkkreises, das Credo. "Deshalb sammeln wir Häuser wie andere Briefmarken." Entstanden ist auf nunmehr gut sechs Hektar Fläche ein Dorf, das einzigartige Gebäude aus der Altmark vereint, zu traditionellen Höfen formt und so einen Eindruck vom Leben zwischen dem 17. und dem Anfang des 20. Jahrhunderts gibt.
Ob Speicher, Back- oder Taubenhaus - im Flecken Diesdorf finden sich die verschiedensten Gebäude, sind mittel- und niederdeutsche Architektur nebeneinander zu erleben. Bauerngärten und Felder gehören dazu. Vor allem aber: Anfassen, ausprobieren, mitmachen sind ausdrücklich erwünscht. "Living History", das Nachleben von Geschichte, nennt Heinecke das Konzept, das man konsequent verfolgt. So sind nicht nur inzwischen 21 einst marode Gebäude aus der gesamten Region umgesetzt und liebevoll saniert worden. Vor allem die inhaltliche Präsentation in den Gebäuden - das Vermitteln der Lebensweise von reichen Bauern wie des armen Gesindes - macht den Großteil der Arbeit aus. Insbesondere in den Wintermonaten, wenn das Museum geschlossen ist, werden die Bestände überarbeitet.
"Living History" meint freilich auch: Immer wieder werden - zum Teil mit Hilfe von Drehbüchern - authentische Szenen nachgespielt. Ob Taufe, Hochzeit oder auch Arbeitsabläufe. Vor einigen Tagen beispielsweise ist bei der Kartoffelernte wie vor 100 Jahren Technik von einst vorgestellt worden. Regelmäßig wird bei einer "Vergodendeel" mit der Kornsense gemäht, mit der Hand die Garbe gebunden und schließlich getanzt. Und für den 3. Oktober rechnen die Museumsmacher schon heute mit einem Riesenansturm zum Erntefest.
Dass solche Aktionen auch künftig von Erfolg gekrönt sind, da verweist Friedhelm Heinecke nicht nur auf die steigenden Besucherzahlen. Er ist sich auch aus einem anderen Grund sicher. "Man glaubt gar nicht, wie viele Kinder bei ihren Besuchen hier zum ersten Mal eine Dezimalwaage sehen."