60 Jahre Halle-Neustadt Die nummerierte Stadt: Das Zahlenrätsel von Halle-Neustadt
Als einziger Ort in der DDR kannte die Chemiearbeiterstadt keine Straßennamen, sondern Blocknummern. Das Geheimnis der Nummernvergabe kannten selbst die meisten Eingeborenen nicht.

Halle (Saale)/MZ. - Dass sich der Wohnblock mit der Nummer 491 direkt neben der 391 befand, die 324 neben der 253 und die 617 neben der 499, war ein Rätsel. Aber keines, das die Menschen beschäftigte, die in Halle-Neustadt wohnten. Die Plattenbausiedlung, ab 1963 als Halle-West errichtet, hatte eben, was keine Stadt sonst hat, abgesehen von New York. Statt Straßennamen besaß sie ein System von Nummern, das sich Besuchern nicht erschloss, Einwohnern aber auch ohne Kenntnis der zugrundeliegenden Systematik einleuchtete.
60 Jahre Halle-Neustadt: Blocknummern statt Straßennamen
Wer längere Zeit hier zubrachte, wusste, wie das vermeintliche Zahlenchaos zu ordnen war. Vom Stadtzentrum aus waren die Zahlen im Uhrzeigersinn vergeben worden. Allerdings entsprachen die Nummern der sogenannten Wohnkomplexe den Blocknummern damit gar nicht, weil sie ihre Zahl nach dem Datum der Fertigstellung erhalten hatten.
Das 1. WK führte Blocknummern von 600 aufwärts, im 8. WK standen die 300er Blocks und im 6. alle von 900 an. Wenig zur Klarheit trug bei, dass die Zehnerstelle in jeder Blocknummer sich auf die Entfernung von einem gedachten Schnittpunkt bezog. Der befand sich zwischen der zentralen Magistrale-Straße und der S-Bahntrasse in der Stadtmitte. Und das nur theoretisch, weil ein Teil der Blocks nach dem Datum ihrer Fertigstellung nummeriert worden war.

Unverständlich, aber modern
Hoch modern, aber höchst unverständlich. Doch Richard Paulick, der Vater der Stadt für das „sozialistische Jahrtausend“, wie es in der 60er Jahren hieß, wollte mehr als nur eine neue Großsiedlung bauen. Halle-Neustadt war der Versuch, mit dem Städtebau der Vergangenheit zu brechen. Statt in engen Innenstadtquartieren mit Klo halbe Treppe sollte der neue Mensch in breiten Straßen gehen, hinter großen Fenstern leben, mit Balkon und warmem Wasser aus der Wand. Das Zeitalter der Kybernetik verhieß industrielle Bautechniken, die die „pulsierenden Kräfte der Massen zusammenzufassen und ihnen Richtung geben“, wie der französische Architekt Le Corbusier schon 50 Jahre zuvor geträumt hatte.
Wolfgang Kirchner, damals ein junger Ingenieur, betrachtete „HaNeu“ nicht als ostdeutschen Sonderfall. Vorbilder habe es in der Bundesrepublik und in Schweden gegeben, sagt der Mann, der das Plattenwerk mit aufbaute. In seiner Fantasie habe er zwischen den weißen Blöcken von Anfang an Bäume gesehen, 30 Jahre alt und grün, erinnerte sich Kirchner viele Jahre später. „Wenn man sich Parks zwischen die Häuser gedacht hat, war alles richtig schön.“

Für die, die in den Blöcken und ihren weiten Hinterhöfen aufwuchsen, sowieso. Keiner aus der zwischen 1970 und 1990 geborenen Generation der Neustadt-Kinder hätte das Prinzip der Blocknummerierung erklären können. Wie anderswo die Straßen irgendwie hießen, hatten sie hier ihre Nummern. Quasi Namen aus Zahlen, die niemand verstehen musste, um sich zu orientieren.
Ein logisches System
Wer sich tatsächlich schwertat mit dem logisch aufgebauten System, das sich an das der DDR-weit vergebenen Postleitzahlen anlehnte, war die Deutsche Post. Vor allem am Anfang, als die Blocknummernvergabe mehrfach korrigiert wurde, weil sie „EDV-gerecht nicht zu erfassen ist“, wie ein Brief des Stadtbaudirektors an das Hauptpostamt von 1975 klagt. Immer wieder standen Zusteller vor Rätseln, weil eine neue Zahl an einem Block keinen Hinweis darauf lieferte, unter welcher Nummer das Gebäude zuvor geführt worden war.
Wie Unterlagen aus dem halleschen Stadtarchiv verraten, blieb die in der westdeutschen Quadratestadt Mannheim bereits Ende des 17. Jahrhunderts eingeführte Nummerierung auch für die Neustädter Stadtverwaltung ein dauerhaftes Problem. Die Vorstellung der Planer um Paulick, dass der Arbeiter der Zukunft keine altertümlichen Straßennamen mehr zu seinem Glück brauche, galt weiterhin als gut. Doch die Umsetzung krankte daran, dass die Blocks ihre Zahl nicht deutlich sichtbar zeigten.
Die „Einheit des gesellschaftlichen Lebens und Wohnens“, die das SED-Politbüro im Baubeschluss von 1963 beschworen hatte, drohte in der Praxis an ein paar Schildern zu scheitern. Und das trotz der „bildkünstlerischen Mittel“, die als Plastiken, Wandmalereien und Brunnen zwischen die Fünfgeschosser und Hochhäuser gesetzt worden waren, um nur ja keine Monotonie aufkommen zu lassen.
Aufbruch ins Wohnen von Morgen
Schon 1973 erhielt das Büro für Städtebau deshalb den Auftrag zur Erarbeitung eines „Orientierungssystems“. Halle-Neustadts Wohnkomplexe, weniger der vom Schriftsteller Jan Koplowitz gerühmte „Aufbruch in das Wohnen von Morgen“, als eine Bienenwabe aus Beton, die mit Wohngebietskneipen, Arztblock, Kaufhalle und Schule ein Dorf nachbildete, sollten sich besser zu erkennen geben. „Blockkennzeichnungsnummern“ wurden eingeführt, stets an derselben Stelle anzubringen. Dazu entstand ein „Bezeichnungs- und Informationssystem“, das Hoffnungen weckte, die Verwirrung auswärtiger Besucher beseitigen zu können.
Eine weitere Täuschung. Anwohner kamen gut klar, je besser, je länger sie in Halle-Neustadt lebten. Fremde aber scheiterten zuverlässig. 1982 wurde mit „Blockkennzahlen“ nachgearbeitet, die wegen fehlender Produktionskapazitäten von einer Feierabendbrigade hergestellt werden mussten. Um zu verhindern, dass sich Kinder verlaufen, verpflichteten die Stadtplaner schließlich sogar zwei Grafiker, die „auf Bürgerwunsch Symbole zur Kenntlichmachung der Standorte in Form von Baummotiven“ entwerfen. Groß wurden diese Bilder auf die Müllhäuschen gemalt.
So passten sich die kühnen Träume vom neuen Wohnen kleinteilig an die Möglichkeiten an. Paulicks erträumte „Zweckform von Technik und Industrie“ aus drei Zimmern, Küche, Bad musste in langen, zähen Kämpfen mit der Mangelwirtschaft erst halbwegs alltagstauglich gemacht werden.
Nummern aus Sohlengummi
Ein erster Versuch mit Plaketten aus Buna-Plastik scheiterte, weil das Material sich im Sommer verzog. Der zweite Anlauf glückte: Mit Schablonen wurden nun Symbole aufgemalt. Doch als nachgestrichen werden sollte, weil die Farbe schnell verblasste, waren die Pappvorlagen schon nicht mehr brauchbar - aus „Schuhsohlengummi“, so ein zeitgenössischer Bericht, mussten neue gefertigt werden.
Aus der Zeit kurz vor dem Ende der DDR und dem Ende von Halle-Neustadt als eigenständiger Stadt tauchen in den archivierten städtischen Unterlagen dann Überlegungen auf, der Chemiearbeiterstadt doch wieder Straßennamen zu geben. In langen Listen sind Bezeichnungen wie „Georgi-Dimitroff-Straße“, „Straße der Jugend“, „Wilhelm-Pieck-Ring“ und „Leninstraße“ aufgeführt. Sie wurden auf ideologische Tauglichkeit geprüft. Dann aber doch nicht vergeben.
Erst Anfang 1992, Halle-Neustadt war nach einer Bürgerbefragung bereits zu einem Stadtteil von Halle geschrumpft worden, verschwanden die Blocknummern auf Beschluss des neugewählten Stadtrates. Sie wurden abgelöst von Dichter-, Städte- und Blumennamen. Doch wer 32 Jahre später in Halle-Neustadt nach einer Adresse fragt und an einen älteren Einwohner gerät, muss bis heute mit einer Gegenfrage rechnen: Und welche Blocknummer war das?