Der Quersteller Der Quersteller: Nachruf auf Hans-Jochen Tschiche

Halle (Saale) - Über Jahrzehnte war das auf Grünen-Parteitagen in Sachsen-Anhalt eine feste Größe: Hans-Jochen „Hajo“ Tschiche steht am Rand und verfolgt eine Debatte. Man kann sehen, wie er sich aufregt. Dann stürmt er nach vorne aufs Podium - und redet seiner Partei ins Gewissen: So nicht, Freunde! Ja, er war das bündnisgrüne Gewissen, eine moralische Instanz, ein Quersteller. Der frühere Fraktionschef der Grünen im Landtag ist am Donnerstag in den frühen Morgenstunden gestorben. Der 85-Jährige hinterlässt seine Lebensgefährtin und drei erwachsene Kinder.
Der politische Weg des gebürtigen Sachsen begann wie bei so vielen Nachwendepolitikern in der Bürgerbewegung der DDR. Der Theologe wandte sich gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings, als Leiter der evangelischen Akademie Magdeburg bot er Aufsässigen Unterschlupf.
Mit Bärbel Bohley, Frank Eigenfeld und anderen gründete er im September 1989 das Neue Forum. In Grünheide bei Berlin hatten sie den berühmten „Aufbruch ’89“ ersonnen: „In unserem Lande ist die Kommunikation zwischen Staat und Gesellschaft offensichtlich gestört.“
Beste Redner im Parlament
Ein Kommunistenfresser war Tschiche dennoch nicht. Er wollte die DDR reformieren. Enttäuscht war er, dass die Bürgerbewegung von der Wiedervereinigung und Helmut Kohl überholt wurde. Tschiche, Abgeordneter der ersten 1990 frei gewählten Volkskammer, ging dann zu den Grünen.
Von 1990 bis 1998 war er Fraktionschef der Grünen im Magdeburger Landtag. Der bester Redner im Parlament in dieser Zeit war der Pfarrer und vor allem war er ein Schutzpatron des „Magdeburger Modells“: der rot-grünen Minderheitsregierung des Ministerpräsidenten Reinhard Höppner (SPD), die sich von der damaligen PDS tolerieren ließ.
„Ohne ihn wäre das nicht auf den Weg gekommen, das Magdeburger Modell war ja auch in meiner Partei umstritten“, erinnert sich die Grünen-Landeschefin Cornelia Lüddemann. Nur vier Jahre nach der Wiedervereinigung die SED-Nachfolgerin auch nur im Dunstkreis der Macht - das war für viele eine Zumutung. Die Empörung hielt Tschiche aus und klein: mit seiner moralischen Autorität als Bürgerrechtler.
Dabei war er nicht abgehoben, sondern handfest. „Er war ein großer Pragmatiker“, so Lüddemann. Bei der PDS, so Tschiche damals, gebe es neben „stalinistischen Betonköppen und nostalgischen Kleinbürgern bunte Reformer-Vögel, die sehen aus wie wir und reden wie wir“.
Weil Tschiche den „Traum vom Sozialismus mit menschlichem Antlitz“ weiterträumte, war ihm die PDS näher als die CDU.
1998 flogen die Grünen aus dem Landtag und blieben 13 Jahre draußen. Tschiche, damals 68 Jahre alt, hätte sich zur Ruhe setzen können. „Er wollte aber immer die Gesellschaft gestalten“, so Lüddemann.
Mitgründer von „Miteinander“
Quersteller gehen nicht in Pension. So wurde er Vorsitzender des von ihm mit initiierten Vereins „Miteinander“, der sich gegen Rechtsextremismus einsetzt. Der Träger des Bundesverdienstkreuzes machte sich nie etwas aus Äußerlichkeiten. Als freundlichen Kauz erlebte man ihn. Und dass er sich zeitweilig in dem kleinen Bördedorf Samswegen eine Eselin im Garten hielt wie andere einen Hund, war für den Nonkonformisten normal.
Angst vor großen Tieren war ihm auch fremd. Als Joachim Gauck Bundespräsident werden sollte, fuhr Tschiche ihm in die Parade. Gauck habe in der DDR gar nicht zur Opposition gehört und reise dennoch „ohne Skrupel“ auf dem Ticket als ehemaliger Bürgerrechtler durchs Land, grollte Tschiche.
In den Börde-Kreistag ließ er sich auch noch mit 84 Jahren wählen. Eingemischt hat er sich auch ohne Mandat. Etwa als sich im Altmarkdorf Insel zwei aus der Sicherungsverwahrung entlassene Sexualstraftäter niederließen und fast die gesamte Bevölkerung Sturm lief. Tschiche warb mit Flugblättern um Verständnis für die Männer und wurde beschimpft, er solle sich schämen. Tat er nicht, er stellte sich quer. (mz)
