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DDR-Staatssicherheit DDR-Staatssicherheit: Die Befehle kamen von der SED

Von Steffen Könau 15.08.2013, 19:38
Tschekist und Informeller Mitarbeiter (IM): Bis heute erinnert ein zugewuchertes Denkmal vor der früheren Stasi-Zentrale am Gimritzer Damm in Halle an die Macht des MfS.
Tschekist und Informeller Mitarbeiter (IM): Bis heute erinnert ein zugewuchertes Denkmal vor der früheren Stasi-Zentrale am Gimritzer Damm in Halle an die Macht des MfS. Könau Lizenz

Halle (Saale) - Fast ein Vierteljahrhundert nach Auflösung der DDR-Staatssicherheit beginnt plötzlich eine Debatte um Macht und Einfluss des Ministeriums, das sich selbst immer nur als treuen Diener der SED sah.

Er hat seine Schuld gefühlt. Und seine Buße angenommen. Als der Liedermacher Gerhard Gundermann kurz davor stand, einen großen Plattenvertrag zu unterschreiben, tauchte plötzlich ein Gespenst aus der Vergangenheit wieder auf: IM „Grigori“ hatte sich Gundermann genannt, als er sich mit 21 entschloss, ein „Kundschafter des Guten“ zu werden, wie er sagte. Gundermann unterschrieb als Informeller Mitarbeiter beim MfS, beseelt vom Glauben an den Sieg des Sozialismus. In der SED war er ohnehin schon, Berufsoffizier wollte er werden.

„Ich dachte damals, die DDR ist so eine Art belagerte Festung“, versuchte er sich sein Handeln später selbst zu erklären. Da war es schon zu spät. Die Mauer war gefallen, das MfS hatte sich von der geheimen Macht im Staate DDR zum Gesicht der Diktatur entwickelt. Wer dabei war, war schuldig.

Und das keineswegs zufällig, wie Wolfgang Berghofer, letzter SED-Oberbürgermeister von Dresden, später im „Jahrbuch für Kommunismusforschung“ berichtete. Danach hatte DDR-Ministerpräsident Hans Modrow bereits am 3. Dezember 1989 bei einem Geheimtreffen gesagt: „Genossen, wenn wir die Partei retten wollen, brauchen wir Schuldige.“ Modrow schlug auch gleich vor, wo diese zu finden sein könnten: Im Ministerium für Staatssicherheit.

In Halle zeigte die Entscheidung der SED-Chefs am 11. Juli 1992 öffentlich Wirkung. An diesem Tag treffen von bis heute unbekannt gebliebenen Absendern verschickte braune Packpapierumschläge bei Zeitungsredaktionen in der Region ein. Inhalt: Eine Namensliste auf 112 Seiten. Bei den 4 500 aufgeführten Personen, heißt es dazu, handele es sich um die Inoffiziellen Mitarbeiter des MfS in Halle und im Saalkreis. Die Liste sei „eine Dokumentation, die aufzeigt, in welchem Maße die Zivilbevölkerung der DDR für die Staatsmafia der SED rekrutiert wurde“.

Gewaltiger Aufschrei

Der folgende Aufschrei ist gewaltig. Angst geht um in der Stadt. Beamte verlieren den Job, Prominente ihren guten Ruf. Betroffene dementieren, manche klagen. Erstmals ist die Dimension der Bespitzelung für einen ganzen Landstrich mit einer halben Million Menschen sichtbar. Etwa neun IM hielt sich das MfS pro tausend Einwohner. Und auf die richten sich nun alle Blicke - nicht auf die Offiziere des Mielke-Apparates. Und erst recht nicht auf die Funktionäre der SED, deren Weisungen das MfS folgte.

Viel hat sich daran bis heute nicht geändert. Noch zwei Jahrzehnte nach ihrer Auflösung dient die Staatssicherheit ihrer Partei als Schild und Schwert, wie der junge Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem Buch „Stasi konkret“ (Beck-Verlag, 17,95 Euro) analysiert. Kowalczuk, Forscher beim Bundesbeauftragten für die Stasi-Unterlagen, hatte ursprünglich nur eine Geschichte des MfS schreiben wollen, als „Einsteigerbuch für historisch Interessierte“, wie er sagt. Bei der Arbeit aber sei dann die Frage in ihm aufgetaucht, „ob es wirklich gerechtfertigt ist, alle Schuld auf die IM abzuwälzen“.

Für Kowalczuk, der sich zu DDR-Zeiten als Pförtner durchschlagen musste und erst nach dem Mauerfall studieren durfte, geben die Unterlagen des MfS eine klare Antwort. Das MfS handelte auf Befehl und die Befehle kamen von der Partei, Punkt. „Die DDR wird völlig zurecht SED-Diktatur und nicht Stasi-Diktatur genannt“, sagt er.

Und doch ist das Böse an der DDR in jeder Debatte klar definiert: Der „Spitzelstaat“ überstrahlt den Parteistaat. Er habe sich deshalb angeschaut, was einzelne Personengruppen zu DDR-Zeiten tatsächlich taten, sagt Kowalczuk. Ergebnis: „IM waren wichtig für das System, aber nicht wichtiger als SED-Funktionäre oder Grenzoffiziere oder Stasi-Offiziere oder Polizei-Offiziere“. Zudem sei beim Aktenstudium zutage getreten, dass „viele IM zwar das Label IM trugen, aber längst nicht alle so verräterisch und denunziatorisch wirkten, wie es der Begriff nahelegt“.

Der gebürtige Berliner fragt nicht nach einer Schublade, sondern danach, „was ein Mensch tatsächlich getan hat.“ So kommt Kowalczuk zu „weitaus komplexeren Gesellschaftsbildern, die sich nicht mehr an Kategorien orientieren, die die Stasi vorgibt“. Er kommt aber auch zu niedrigeren IM-Zahlen. Etwa, weil er systemnahe Funktionsträger, die auch ohne Stasi-Decknamen sachdienliche Hinweise gegeben hätten, und technische IM, die zum Beispiel nur ihre Wohnung für Spitzeltreffs zur Verfügung stellten, aus den IM-Zahlen herausnimmt.

Das sorgt für empörte Reaktionen bei einer seltsamen Koalition aus Stasi-Opfern und Ex-Stasileuten. Der Forscher verharmlose und relativiere, hieß es - ein Vorwurf, dem der Zeitzer Manfred Kriegel widerspricht. „Es ist gut, dass dieses Thema jetzt in den Fokus der Öffentlichkeit gelangt“, sagt der 65-Jährige, der nach einem Fluchtversuch in den 70er Jahren zu vier Jahren Haft verurteilt worden war.

Kriegel saß im Roten Ochsen in Halle und in Brandenburg, er hat die raffinierten Methoden der Stasi, Menschen den Lebensmut zu nehmen, am eigenen Leibe erdulden müssen. Trotzdem macht er nicht das MfS allein verantwortlich. „Die DDR hatte keine Stasi-Diktatur, sondern eine SED-Diktatur“, sagt Kriegel, „Aufarbeitung der DDR-Geschichte nur unter dem Aspekt Stasi ist unmöglich.“

Für ihn steht fest: Diese Debatte lenke ab von der um die Machtbalance im SED-Reich, wie sie der MfS-Oberstleutnant Peter Romanowski schon vor 20 Jahren gefordert hatte. Die IM seien nur „die letzten Glieder in der Kette“ gewesen, beschrieb die frühere Nummer vier des halleschen MfS damals. Von wegen Allmacht des MfS: „Wir hatten Schild und Schwert zu sein, wir durften niemanden aus dem SED-Apparat bearbeiten.“ Eine klare Rangfolge: Hier der Koch, da der Kellner. Trotzdem hat es sich eingebürgert, die Verantwortlichen beim MfS zu suchen. „Dabei war Denunziation in der DDR kein Phänomen, das allein an die Stasi gebunden war“, so Kowalczuk. Die DDR sei ein SED-Staat gewesen, die Stasi nur ein Teil des Herrschaftsapparates. „Jeder SED-Kreissekretär hatte mehr Einfluss als ein Stasi-Kreisdienstleiter, jeder SED-Parteisekretär war systemnotwendiger als ein IM.“

Heidi Bohley, die in Halle das Neue Forum mitbegründete, widerspricht ihm nicht. „Jeder, der in der DDR lebte, wusste, wer das Sagen hatte.“ Das Besondere an der IMProblematik sei allerdings, dass niemand gewusst habe, wer einer sein könnte. „Bei einem SED-Genossen war klar, mit wem man es zu tun hat, bei einem IM nicht.“ Deshalb wohl sei die Empörung über die IM größer, obwohl deren Verantwortung geringer sei.

Eine These, für die auch die Reaktion von Mielkes Ex-Vize Markus Wolf auf Modrows Vorschlag spräche, die Stasi als Sündenbock zu benutzen. Wolf habe gerufen „Hans, wir haben doch nie etwas ohne Befehle von Euch gemacht.“ Erst als Modrow versprach, Wolfs Auslandsaufklärung außen vor zu lassen, habe Wolf sich wieder beruhigt. Gegen die Idee, den sogenannten Devisenbeschaffer Alexander Schalck-Golodkowski als „hauptverantwortliche Person“ herumzureichen, habe es dann keine Einwände mehr gegeben.

Der Stasi-Offizier Markus Wolf blieb ein geachteter Mann, dessen Erinnerungen namhafte West-Verlage druckten. IM Grigori dagegen fiel ins Stasi-Loch: Die eben noch hochinteressierte Plattenfirma aus den alten Ländern wollte ihn nicht mehr - obwohl er nicht nur sechs Jahre lang „wie ein Idiot deren Aufträge ausgeführt“ hat, wie er über seine IM-Zeit sagte. Sondern anschließend acht Jahre lang selbst als „Staatsfeind“ überwacht wurde.

Die historische Wahrheit ist offenbar vielschichtiger als sie in Listen und Zahlen abgebildet werden kann. Nicht nur über die Stasi, sagt Manfred Kriegel, aber auch nicht nur über die SED dürfe gesprochen werden. „Leute, die nur ihren Vorteil im Auge hatten, gab es in allen Parteien“. Wie nach dem Zweiten Weltkrieg sei auch in der Wendezeit „viel Kraft in Vertuschung und Neugestaltung von Lebensläufen“ gesteckt worden. In einem komplexeren Bild des Arbeiter- und Bauernstaates sei nicht jeder IM ein Denunziant gewesen, umgekehrt habe auch nicht jeder Nicht-IM eine weiße Weste. „Ich sage es noch schärfer“, sagt Kowalczuk, der unzählige Fallakten gelesen hat: „Viele IM waren keine Denunzianten.“

Erst Gefängnis, dann Stasi

Beispiele wie das des Punkmusikers André Greiner-Pol belegen das. Greiner-Pol hatte nach sechs Wochen Gefängnis wegen Beihilfe zur Republikflucht bei der Stasi unterschrieben. Danach arbeitete der mit seiner Band Freygang häufig verbotene Sänger drei Jahre daran, von seinem Führungsoffizier wegen Unzuverlässigkeit rausgeworfen zu werden. Solche Teile der Wirklichkeit des SED-Staates verlangten danach, denkt Ilko-Sascha Kowalczuk, der medialen Überbetonung des MfS historische Fakten gegenüberzustellen. „Es verharmlosen jene, die die DDR auf Stasi reduzieren.“ Augenscheinlich sei die IM-Problematik „auch nach mehr als 20 Jahren noch emotional aufgeheizt“. Immerhin aber werde jetzt darüber geredet.