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DDR-Kommunalwahl 1989 DDR-Kommunalwahl 1989: Die Tricks der Fälscher

Von ALEXANDER SCHIERHOLZ UND ANDREAS HILLGER 10.05.2009, 17:50

HALLE/MZ. - Von 98,85 Prozent Zustimmung für die Einheitsliste der Nationalen Front in Kreistagen, Stadtverordneten- und Bezirksversammlungen spricht Krenz, Politbüromitglied und Chef der Wahlkommission. Doch Kupke ist klar: alles Lüge.

Noch Stunden vorher hat der Ingenieur im Wahllokal der halleschen Kröllwitz-Schule die Auszählung beobachtet - unter Murren des Wahlvorstandes. In den meisten Lokalen werden die Bürgerrechtler weggeschickt, obwohl die Auszählung laut Gesetz öffentlich ist. Doch in 41 von 208 Wahllokalen der Stadt gelingt es ihnen, dabei zu sein, als die Ergebnisse mitgeteilt werden - Daten, die stark abweichen von dem, was Krenz später verkünden wird.

Auch in Dessau bleibt die Auszählung an diesem Tag nicht unbeobachtet: Mitglieder der Interessengemeinschaft Stadtgestaltung, die sich ursprünglich zum Erhalt von historischer Bausubstanz gegründet hatte, haben die Wahl als Nagelprobe für das Demokratieverständnis der DDR entdeckt. Wie in Halle werden einige von ihnen des Raumes verwiesen. Andere können bleiben - und stellen beim Vergleich ihrer Zahlen ebenfalls erhebliche Unterschiede zu den offiziellen Ergebnissen fest.

Als die Bürgerrechtler in Halle Tage später anhand ihrer Zahlen Hochrechnungen anstellen, wird ihr Verdacht erhärtet: Demnach wählten in der Stadt mehr als 11 000 Menschen gar nicht, jeweils mehr als 10 000 lehnten die Einheitslisten für Stadtverordneten- und Stadtbezirksverordnetenversammlung ab. Offiziell ist nur von jeweils rund 2 000 Nichtwählern und Neinstimmen die Rede.

Im Dessau ziehen zwei der Aktivisten die Konsequenz - und nehmen persönliches Risiko in Kauf. Obwohl man sie vor möglichen Repressalien gewarnt hat, erstatten Ramona Steinberg und Axel Nixdorf Anzeige wegen Wahlbetrug. Bei einer Vorladung durch die Abteilung Inneres wird ihnen ein Text vorgelesen, der wie eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wirkt: Alles sei mit rechten Dingen zugegangen, daher hätte es auch keine Fälschung geben können. Noch Fragen? Die Hochrechnungen, mit denen die beiden ihre Anzeige untersetzen wollten, werden gar nicht zur Kenntnis genommen. Steinberg wird im Herbst des gleichen Jahres zur Mitbegründerin des Neuen Forums in Dessau, Nixdorf gelingt im Sommer über die ungarische Grenze die Flucht.

Wie genau die Ergebnisse gefälscht wurden, weiß man zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht. Doch Ungereimheiten gibt es zur Genüge: Bei der Auszählung werden die Ergebnisse in Formularen notiert - mit Bleistift. Potenzielle Nichtwähler - etwa Ausreiseantragsteller - werden kurzerhand aus dem Wählerverzeichnis gestrichen. Oder als "zzA" vermerkt - "zur Zeit im Ausland". Als Gegenstimmen werden nur jene Stimmzettel gewertet, auf denen der Name jedes Kandidaten einzeln durchgestrichen ist. Ist der Zettel dagegen komplett durchkreuzt, wird er - wie Kupke sich erinnert - entweder als ungültig gewertet. Oder als Ja.

"Die Manipulation hatte sehr vielfältige Formen", sagt Kupke, der zusammen mit neun anderen Bürgerrechtlern wenige Wochen nach der Wahl einen offenen, aber letztlich folgenlosen Brief an die frisch gewählten halleschen Stadtverordneten verfasste. Entscheidend aber war der Umgang mit den Ergebnissen aus den einzelnen Wahllokalen. Davon erzählt eine Wahlhelferin, die in den Wochen nach dem Urnengang Kontakt zu den Bürgerrechtlern sucht: Sie muss Zahlen aus einzelnen Wahllokalen per Formular an einen sogenannten Meldekopf weitergeben - dort werden Ergebnisse gesammelt und nach oben gemeldet. Doch zwischendrin, so berichtet sie, nehmen ihr andere Helfer die Zettel ab. In mindestens einem Fall bekommt sie ein Formular mit anderen Zahlen zurück - die Manipulation ist offensichtlich.

Am 8. Mai 1989 hatte die Parteizeitung "Neues Deutschland" noch gejubelt: "Eindrucksvolles Bekenntnis zu unserer Politik des Friedens und des Sozialismus". Westdeutsche Medien berichteten schon wenige Tage nach der Wahl ausführlich über die von Oppositionsgruppen angeprangerte Fälschung. So schrieb etwa der "Spiegel" unter Berufung auf Kirchenkreise von bis zu 15 Prozent Nein-Stimmen und bis zu einem Viertel Nichtwählern in städtischen Gebieten. Die DDR-Öffentlichkeit erfuhr davon genauso wenig wie von einer Anfang Juni gewaltsam aufgelösten Demonstration in Berlin gegen Wahlbetrug oder von Forderungen der evangelischen Kirche nach einem neuen Wahlsystem.

Im Februar 1990 leitet der hallesche Bezirksstaatsanwalt Dieter Unger Ermittlungen ein gegen den amtierenden Oberbürgermeister Manfred Nitzer, die Stadtbezirksbürgermeister Hans Kurzweg, Gerhard Noack und Artur Wilhelm sowie gegen Leiter von drei Rechen- und Meldegruppen. Der Vorwurf: Sie sollen das Wahlergebnis "fiktiv vorbestimmt" haben. Die frisierten Zahlen gab die SED vor, wie im Prozess deutlich wird. Der freilich findet erst ab März 1992 statt. Vorher platzt das Verfahren mehrmals. Mal wird ein Anwalt krank, mal erklärt sich ein Richter für befangen. Der Prozess endet einen Monat später mit Bewährungs- und Geldstrafen für den Hauptangeklagten Nitzer sowie für Kurzweg, Noack und Wilhelm. Als mildernde Umstände rechnet das Gericht den vier Männern an, dass sie geständig sind. Das Verfahren gegen die drei weiteren Angeklagten ist zuvor gegen die Zahlung von Geldstrafen eingestellt worden.

In Dessau dauert es noch ein Jahr länger, bis die frühere Oberbürgemeisterin Sylvia Retzke und der Leiter des Wahlbüros, Ernst Broda, vor Gericht stehen. Der Staatsanwaltschaft zufolge soll Retzke als Vorsitzende der Wahlkommission in Dessau 1 200 auf 189 Nein-Stimmen heruntergerechnet haben. Bei ihrem Freispruch am 23. Juni 1993 kommt den Angeklagten die Tatsache zugute, dass sie nicht nach dem Recht jenes Staates beurteilt werden, der die Fälschung der Wahlen betrieben hat. Otto Schily, der als prominenter Anwalt die Verteidigung übernommen hat, bringt das Gericht in eine moralische Zwickmühle: "Die Scheinwahlen in der DDR waren das Gegenbild demokratischer Wahlen, das rechtsstaatliche System der Bundesrepublik kompromittiert sich durch ihren nachträglichen Schutz."