DDR-Geschichte DDR-Geschichte: Zurück nach Weißenfels

Der Koffer, der Koffer! Bevor die Dreharbeiten an geschichtsträchtigem Ort so richtig losgehen, holt Vitali das gute Stück noch schnell aus dem Kofferraum seines Autos. Schließlich sind da Erinnerungsstücke an ein halbes Leben drin, Fotos, Dokumente, Briefe - und eigentlich ist der Koffer mit seinen Aufklebern selbst das wertvollste Erinnerungsstück. An eine Zeit, die mehr als 35 Jahre zurückliegt. Und die das MDR-Fernsehen in einer Dokumentation, die im November ausgestrahlt werden soll, wieder ins Bewusstsein rücken will.
Rückblick: In der DDR ist Weißenfels eine Garnisonsstadt der sowjetischen Armee. Von 1976 bis 1978 gehört der anfangs 18-jährige Vitali Loboda aus der Ukraine zu den Soldaten, die im 174. motorisierten Garde-Schützenregiment ihren Wehrdienst ableisten. Vitali ist Funker im 1. Bataillon.
Jahrzehnte später soll ein junger Weißenfelser auf den Lebensweg des ehemaligen Sowjetsoldaten stoßen. Daniel Busse ist Hobbyhistoriker und ständig auf Spurensuche in seiner Heimatstadt. Als die 2010 ihr 825-jähriges Stadtjubiläum feiert, schenkt er ihr eine Dokumentation mit exakt 825 Fotos - von sanierungsbedürftigen Gebäuden der Altstadt.
Danach ist seine Neugier erst so richtig entbrannt. In den Jahren 2011/12 pendelt der heute 29-Jährige zwischen München, wo der Maschinenbauingenieur seine Diplomarbeit schreibt, und Weißenfels. In aufwendiger Kleinarbeit sammelt er Material für eine Dokumentation über die Kasernenanlagen links und rechts der Selauer Straße. Trägt Fotos und Ansichtskarten zusammen, stöbert in Archiven, recherchiert im Internet. Im weltweiten Datenkosmos macht er schließlich einen ehemaligen Sowjetsoldaten ausfindig, der in den inzwischen längst abgerissenen Kasernen gedient hat. Es ist Vitali. Er soll ihm Informationen aus erster Hand für seine inzwischen erschienene Publikation „Die Kasernenanlagen in der Selauer Straße“ liefern.
Im August 2011 macht sich Busse auf den Weg in die nordwestukrainische Stadt Lutsk, um jenem Zeitzeugen zu begegnen. „Nachts haben wir uns an der polnisch-ukrainischen Grenze getroffen. Ich habe ständig nach dem Nummernschild WSF geguckt“, erinnert sich Vitali, der noch immer ein akzeptables Deutsch spricht, an die erste Begegnung. Zehn Tage war Daniel Busse im 80 Kilometer von der Grenze entfernten Lutsk. Zeit für Gespräche, die Vitalis Dienst als Soldat in Deutschland lebendig werden lassen. „Nachts haben wir Geschichte gemacht“, erinnert sich Busse. Am Netbook hat er Vitalis Erinnerungen aufgeschrieben.
Nun sehen sich beide in Deutschland wieder. Das Fernsehen ist auf die Geschichte gestoßen, will den ehemaligen Sowjetsoldaten an jenem Ort in Weißenfels filmen, wo einst die Kaserne stand. Und so haben sich Vitali und seine Frau Raissa mit Auto und altem Koffer drin auf den Weg Richtung Westen gemacht. „Heute erscheint vieles in einem anderen Licht, aber es war schon eine schwere Zeit“, blickt Vitali zurück. Und weiter: „Gerade in den ersten Monaten haben wir uns wie im Gefängnis gefühlt, später haben wir uns daran gewöhnt.“ Ausgang habe es kaum gegeben, wenn, dann mit einem Offizier. Während dieser Zeit arbeitet der junge Soldat auch in einer Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft (LPG). Es entstehen Kontakte zu einer Familie in einem Dorf bei Weißenfels, die bis heute nicht abgebrochen sind.
Wenn die Freiräume auch beschränkt waren, so findet Vitali dennoch Zeit, sich in Weißenfels jenen inzwischen legendären Koffer zu kaufen. Mit Hab und Gut, Geschenken und Kaugummi im Gepäck ist er 1978 zurück in die Ukraine gefahren. 32 Jahre lang sollte Vitali Loboda später in einem Chemiewerk arbeiten, heiratet Raissa ein Jahr nach seiner Rückkehr aus der DDR. Heute haben beide einen erwachsenen Sohn und einen zwei Jahre alten Enkel. Der Kontakt zu dem Land, in dem der junge Vitali seine Armeezeit verbracht hat, reißt in all den Jahren nicht ab. 1982 kommt Raissa zum ersten Mal mit nach Deutschland. „Hier riecht es ganz anders. Das war ein ganz besonderer Eindruck“, erinnert sie sich.
Ob er es heute bedauert, dass die Kaserne nach der Wende abgerissen wurde? „Nein, alles hat seine Zeit“, so Vitali weise. Und weil Erinnerungen allzu schnell verblassen, findet es der ehemalige Sowjetsoldat gut, dass es junge Leute wie Daniel Busse gibt, die eintauchen in Geschichte und Erinnerungen wachhalten. Wenn nötig auch nachts, so wie in jenen August-Tagen 2011 in Lutsk. Und vielleicht sind ja noch nicht alle Geschichten erzählt. „Wir bleiben in Kontakt“, versprechen sie sich noch, ehe sich Vitali und Raissa mit dem alten Koffer im Gepäck auf den Rückweg gen Osten machen.