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DDR-Geschichte DDR-Geschichte: Tod im Blut: Tausende schufteten unter mörderischen Bedingungen

Von Steffen Könau 02.07.2015, 05:31
Im Buna-Kombinat arbeiteten fast zehntausend Menschen unter Bedingungen, die selbst nach DDR-Gesetzen nicht zulässig waren.
Im Buna-Kombinat arbeiteten fast zehntausend Menschen unter Bedingungen, die selbst nach DDR-Gesetzen nicht zulässig waren. Steffen Könau/Archiv Lizenz

Schkopau/Bitterfeld - Die meisten seiner früheren Kollegen sind tot. „Krebs“, sagt Gerald Hempel, der 69 Jahre alt ist und das Sterben um sich herum schon seit Mitte der 90er aufmerksam und zunehmend beunruhigt beobachtet. „Es ist doch nicht normal, dass große, starke Männer mit Mitte 40 oder Anfang 50 im halben Dutzend plötzlich tot sind.“

Hempel, der in Bad Lauchstädt wohnt, seinen richtigen Namen aber nicht in der Zeitung gedruckt sehen will, glaubt nicht an Zufall. Sondern an die Spätfolgen seiner Arbeit in der DDR: Mehr als 20 Jahre arbeitete der gelernte Maler in der Chlorelektrolyse des Buna-Kombinates, einem Bereich, in dem gutes Geld bezahlt wurde. Der dafür aber Arbeitsbedingungen bot, die permanent und massiv gegen sämtliche Gesundheits- und Sicherheitsvorschriften der Arbeiter- und Bauernrepublik verstießen.

Die Chlorfabrik der Buna-Werke, in der Chlor, Wasserstoff und Natriumlauge produziert werden, stammt aus den 40er Jahren und sie befindet sich Ende der 80er noch nahezu im Urzustand. Es ist eine schmutzige, gefährliche Arbeit, die Männer wie Hempel hier im Drei-Schicht-System erledigen.

Ein Werk, schmutziger als drei Millionen Menschen, das war das Buna-Kombinat Mitte der 80er Jahre. Nach internen Berechnungen aus dem Dezember 1983 hatte der Großbetrieb in den zwölf Monaten bis dahin so viel Abwasser in die Saale geleitet wie etwa 3,2 Millionen Menschen in derselben Zeit verschmutzt hätten.

Der Unterschied: Die chemische Produktion schied nicht leicht belastetes Wasser aus wie ein gewöhnlicher Haushalt, sondern schwer belastetes, zuweilen sogar vergiftetes. So lag die Quecksilbermenge, die 1983 pro Stunde in die Saale gelangte, nach Werksschätzungen bei 1,45 Kilogramm - der erlaubte Grenzwert hingegen betrug gerade mal 120 Gramm.

Noch schwerer war die Überschreitung bei den hochtoxischen Cyaniden. 0,6 Kilogramm pro Stunde hätte das Buna-Werk einleiten dürfen, tatsächlich verklappt wurden 20 Kilogramm - direkt in einen Fluss, aus dessen Uferfiltrat Trinkwasser für rund 490.000 Menschen gewonnen wurde.  (stk)

Unter Einsatz von flüssigem Quecksilber und Strom wird Chlor hergestellt, das als Grundstoff zur Plastikproduktion dient. Im Buna-Bau mit der Nummer H 56 geschieht das in dunklen, höhlenartigen Räumen. Die sogenannten Zellen, in denen die Prozesse ablaufen, sind undicht wie die Dächer des Gebäudes. „Die Mauern sind marode, in der Schaltwarte fehlen zahlreiche Mess- und Anzeigegeräte“, heißt es in einem Prüfbericht der MfS-Abteilung XVIII, der die Lage im Jahr 1985 ausführlich schildert. Kurz zuvor war es in der Aldehydfabrik, in der ebenfalls Quecksilber eingesetzt wird, zu einer Explosion gekommen, die den Geheimdienst des Ministeriums für Staatssicherheit auf den Plan gerufen hatte. Sabotage? Oder Folge der üblichen Gammelei am Arbeitsplatz?

Betrieb nur als Ausnahme

Nein. Die Stasi-Prüfer, deren Berichte heute im Archiv der Stasi-Unterlagenbehörde liegen, finden stattdessen „Undichtheiten am Rohrleitungssystem und funktionsuntüchtige Steuerungstechnik“. Sie entdecken, „dass die Anlage und ihre Umgebung mit unzähligen Quecksilberkügelchen verseucht ist“ und „dass sich dadurch Dämpfe verbreiten“.

Weil die laut Gesetz zulässige Belastung mit Schad- und Giftstoffen „extrem hoch überschritten“ werde, habe die Anlage seit 1977 nur noch mit einer Ausnahmegenehmigung betrieben werden dürfen. Die aber sei zuletzt vom Gesundheitsministerium nicht mehr verlängert worden sei. „Damit wird die Fabrik in einem gesetzwidrigen Zustand weiterbetrieben“, folgern Mielkes Wirtschaftsaufpasser.

Allerdings wissen das ohnehin alle. Jahrelang haben Arbeitshygiene-Abordnungen, Experten der Abteilung Umweltschutz des Rates des Bezirkes und Ministeriumsdelegationen die unhaltbaren Zustände in Protokollen festgehalten. 37 Prozent der Anlagen sind total verschlissen, der Rest ist überwiegend unbrauchbar, heißt es darin.

Sicherheitseinrichtungen sind kaputt, die Grenzwerte werden, so Oberstleutnant Erich Reinl von der Stasi-Dienststelle in Buna, „um das 20- bis 30-fache überschritten“. Die Berichte verschwinden nicht in Schreibtischen, sondern gelangen bis ganz nach oben. Willy Stoph, Chef des Ministerrates, wird informiert. Er beauftragt den Minister für Chemische Industrie, „umgehend Vorschläge zu Veränderung der Situation vorzunehmen“.

"Gesundheitsgefährdungen durch Quecksilber und Chlor“: Lesen Sie auf der nächsten Seite, wieso trotz fünfzigfacher Überschreitung der Grenzwerte weiter produziert werden durfte.

Doch die bleibt, wie sie ist. Gerald Hempel und seine Kollegen arbeiten nach einem geheim gehaltenen Gutachten der Arbeitshygiene unter „extremer Überschreitung von Quecksilberbelastungen“. Das bei Zimmertemperatur flüssige Metall läuft aus kaputten Rohrleitungen, es tritt aus dem Boden aus, den es bis in zwei Meter Tiefe tränkt.

Zehn Tonnen des Schwermetalls entdeckt eine Prüfkommission 1983 allein im Keller von Buna-Bau H56. Wo der Rest der 110 Tonnen Quecksilber geblieben ist, die jedes Jahr verloren gehen, ist unklar. Sicher nur: Selbst die Belüftungsanlage bläst Quecksilberdämpfe in die Räume und vergiftet die Männer, die hier arbeiten.

Die Folgen sind aus Zahlen ablesbar, die in Buna unter strengem Verschluss gehalten werden und bis heute nicht einsehbar sind. Weder das Landesarchiv noch heutige Besitzer von Teilen der Altanlagen können sagen, wo die medizinischen Unterlagen der damaligen Beschäftigten geblieben sind.

Dass sie reiner Sprengstoff wären, daran lassen die vorhandenen Stasi-Kopien keinen Zweifel. „9.500 Werktätige arbeiten unter Gesundheitsgefährdungen durch Quecksilber und Chlor“, betont ein Stasi-Bericht aus dem Jahr 1985, der an Erich Mielke persönlich geht.

An 950 Arbeitsplätzen im Werk gibt es zu dieser Zeit „eine permanente Überschreitung des sogenannten MAK-Wertes der maximalen Arbeitsplatzbelastung mit Quecksilber“. Der liegt bei 0,005 Milligramm pro Kubikmeter - erreicht werden im Buna-Bau H56 regelmäßig 0,248 Milligramm. Eine Überschreitung um das Fünfzigfache. Dabei „reichen kleine Mengen für dauerhafte Schäden“, wie es in einem anderen MfS-internen Papier warnend heißt.

Betrieb ohne Zulassung

Für nur 392 dieser Arbeitsplätze liegt damals eine Ausnahmegenehmigung vor. Weiterbetrieben aber werden alle: Die DDR-Staatsführung sieht in der Chlorchemie eine „Schlüsselposition bei der vollen Nutzung einheimischer Rohstoffe“. Ohne Quecksilber und Aldehyd keine Chemie, die Brot, Wohlstand und Schönheit bringt.

Und so „wird nur viel Papier beschrieben“, wie ein Stasi-Zuträger mit dem Decknamen IMS Hahn im November 1984 in einem Gespräch mit seinem Führungsoffizier klagt: „Hier ist die Möglichkeit der Unruhe gegeben.“

Natürlich, denn die Buna-Kumpel und ihre Kollegen im gleichermaßen belasteten CKB Bitterfeld bemerken selbstverständlich trotz aller Geheimhaltung, was um sie herum vorgeht. 1980 stirbt der Strafgefangene Gerd Köckeritz während eines Einsatzes in der Elektrolyse des Chemiekombinates Bitterfeld an Nierenversagen. In Blut und Leber finden sich stark überhöhte Quecksilberwerte. 1981 ist es der Häftling Hartmut Kreutz, der mit 14-fach überhöhten Quecksilberwerten im Blut und fünffachen im Urin ins Uniklinikum Leipzig eingeliefert werden muss.

Auch Kreutz stirbt an der Vergiftung, der Obduktionsbefund berichtet von einer „Zersetzung des Blutes“ durch eine zugemauerte Belüftung und verseuchte Unterkünfte. Die Polizei ermittelt wegen fahrlässiger Tötung, die Beschäftigten nennen die Abteilung jetzt „Todeskommando“ und die Mediziner in Bitterfeld reagieren: „Stark Gefährdete sind sofort aus der HG-Elektrolyse zu eliminieren“, lautet eine neue Anweisung. Das gilt ebenso für die Stammmannschaften, die nun in kürzeren Rhythmen auf auffällige Quecksilberwerte im Blut untersucht werden.

Was sie nicht wissen: „Die Grenzwerte im Urin wurden unter Berücksichtigung der besonderen volkswirtschaftlichen Bedeutung der Betriebe in der aus arbeitsmedizinischer Sicht maximal noch vertretbaren Höhe zugelassen“, wie es in einem mit „Nur für den Dienstgebrauch“ markierten Bericht an den Rat des Bezirkes heißt.

Die Männer sterben nicht, jedenfalls nicht gleich. Sie bleiben arbeitsfähig und werden bei auffälligen Werten bis zum Abklingen aus den „heißen Bereichen“ genommen. Bis 1983 müssen 21 chronische Quecksilbervergiftungen als Berufskrankheit anerkannt werden, vier weitere Fälle werden noch bearbeitet. Auf Nachfrage habe einer der Betriebsärzte die Kollegen aber beruhigt, berichtet Stasi-IM „Bernd“: „Das bei uns verwendete Quecksilber sei wegen seiner Zusammensetzung nicht so giftig.“

Ärzte halten System am Laufen

Es sind Ärzte wie dieser, die das System am Laufen halten. Obwohl auch 1983 und 1984 Strafgefangene an Quecksilbervergiftungen sterben, beschränken sich die Mediziner vom Werksambulatorium bis zum Gesundheitsministerium darauf, die allmähliche Vergiftung hunderter Arbeiter und zwangseingesetzter Strafgefangener mit Urin- und Blutproben zu begleiten. Wer mit zu hohen Werten erwischt wird, muss einige Wochen pausieren. Dann darf er zurück in die giftgesättigten Bereiche.

Gerald Hempel sagt, er und seine Kollegen hätten den Ärzten damals vertraut. „Wenn die gesagt haben, da kann man arbeiten, wir passen ja auf euch auf, dann hat man da gearbeitet.“ Die Bezahlung stimmt, zumindest, solange man nicht krank wird oder wie der Strafgefangene Herbert Hänsel im Jahr 1981 direkt an einer Quecksilbervergiftung stirbt.

Dem 50-Jährigen, der nach einem Nierenversagen in die Uniklinik Leipzig eingeliefert werden muss, wird die Anerkennung eines Todes durch eine Berufskrankheit verweigert. Ein „kausaler Zusammenhang zwischen Quecksilber-Exposition und klinischem Verlauf bis zum Tode“ sei nicht erkennbar, heißt es im abschließenden Gutachten des Experten der staatlichen Versicherung. Der Mann, auch er von Haus aus Mediziner, schreibt: „Damit sind die Bedingungen einer Hinterbliebenenrente nicht erfüllt“. (mz)

Auch in Bitterfeld gab es immer wieder Quecksilber-Probleme.
Auch in Bitterfeld gab es immer wieder Quecksilber-Probleme.
Klaus Plewa Lizenz