DDR-Bürgerrechtler DDR-Bürgerrechtler: Schorlemmers Abendrot

Bei der Begrüßung ist Friedrich Schorlemmer vital wie stets. Und zu seiner Vitalität zählt eine ebenso kräftige wie spielerische Angriffslust. „Wenn Sie noch einmal Dorf sagen, dann fliegen Sie raus!“, droht er scherzend. Später fügt der pensionierte Pfarrer hinzu, man wolle seine Straße umbenennen - von Schadewachten in Schorlewachten. Denn nicht nur der Berühmteste aller Schorlemmers wohnt jetzt hier in dieser ruhigen Gasse im Schatten von Sankt Johannis, sondern auch ein Bruder und eine Schwester mit Familien.
Das Dorf mit kaum mehr als 1.000 Einwohnern heißt Werben, liegt an der Elbe im nordöstlichsten Winkel Sachsen-Anhalts und ist eine alte Hansestadt. Fachwerkhäuser und norddeutsche Backsteingotik wechseln einander ab. Dutzende Störche stehen auf den Feldern. Ein Ort wie aus der Zeit gefallen.
Dass Friedrich Schorlemmer, dessen Hauptwohnsitz weiterhin Lutherstadt Wittenberg ist, seit 2007 größere Teile des Jahres in diesem entlegenen Städtchen verbringt, kann wiederum als eine Variante der 1989er-Geschichte gelesen werden. Nicht bloß in Schorlemmers Leben hat es eine Zäsur gegeben. In dem Ortswechsel spiegelt sich Zeitgeschichte, die erkaltet.
Wesentliche Phasen dieses Lebens hat er ja damit zugebracht, in die Rolle des Oppositionellen hineinzuwachsen, diese Rolle auszufüllen und die Revolution aufzuarbeiten. Schorlemmer war Studentenpfarrer in Merseburg, Dozent am Predigerseminar in Wittenberg und später Studienleiter an der Evangelischen Akademie in der Lutherstadt. 1983 ließ er das berühmte Schwert in eine Pflugschar umschmieden, machte anderen in Nähe und Ferne Mut zum Widerstand und nahm als Lohn viel Anerkennung entgegen - allen voran den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels im Jahr 1993.
"Wir sind nicht als Subjekt in die Einheit gekommen"
Wer den Mann, der den Demokratischen Aufbruch mit begründete und von dort in die SPD ging, in den 90er Jahren beobachtet hat, der erlebte einen zornigen Zeitgenossen - zornig über eine seiner Ansicht nach zu Stasi-zentrierte Bewältigung der DDR, zornig auch über die Vereinigung. „Wir sind nicht als Subjekt in die Einheit gekommen, sondern als Konkursmasse“, findet er. Dieser Zorn freilich scheint weithin verflogen. Schorlemmer hat Frieden gemacht. Mit sich. Mit seiner Zeit. Und er ist aus dem Zentrum an die Peripherie gerückt.
Als der 70-Jährige bei Tee aus Töpferware zu reden beginnt, wird die Wende rasch lebendig. Am 5. Oktober 1985 ging’s los, sagt er, mit der Rede des Generalsekretärs der Kommunistischen Partei der Sowjetunion, Michail Gorbatschow. Der verzichtete vor der französischen Nationalversammlung auf den Wahrheitsanspruch der KPdSU und erklärte, jedes Volk suche unter Leiden seinen Weg. „Das war’s“, sagt Schorlemmer. Bald darauf tagte die Synode der Kirchenprovinz Sachsen in der Magdeburger Hoffnungskirche. Bischof Christoph Demke hatte den Abdruck der Gorbatschow-Rede im „Neuen Deutschland“ entdeckt, reichte ihn an Präses Reinhard Höppner weiter, den späteren Ministerpräsidenten. Der gab ihn Schorlemmer, der den Text vor der Synode zitierte und sich feixend erinnert, wie die Vertreter der Räte der Bezirke Halle und Magdeburg rausrannten, weil sie dachten, das sei eine der üblichen Schorlemmer’schen Provokationen. Das „Neue Deutschland“ hätten ja selbst die Genossen nicht gelesen. Warum auch? „Da stand ja nie ein Gedanke drin. Nie, nie.“
1985 jedenfalls sei „der Durchbruch“ gewesen. „Denn das war ja all die Jahre unsere Erwartung: Wenn sich grundlegend etwas ändern soll, dann muss es sich erst in Moskau ändern.“ Als 1986 der Reaktor von Tschernobyl explodierte, wirkte das wie eine Bestätigung für die Unrettbarkeit der Verhältnisse. 1987 verständigten sich SPD und SED auf das gemeinsame Dialogpapier „Der Streit der Ideologien und die gemeinsame Sicherheit“. Doch auch dem hätten die SED-Oberen keine Taten folgen lassen, so Schorlemmer. Ein Grund mehr, selbst zu handeln. Wieder ein Jahr ging ins Land bis zum Kirchentag in Halle mit 20 Thesen aus Wittenberg zur Erneuerung der DDR. Hauptautor: Friedrich Schorlemmer.
Rückblickend seien diese „bleiernen Jahre eine unglaublich lange Strecke“ gewesen. Erst anschließend ging es Schlag auf Schlag: der Umsturz in Polen, das Entsetzen über die gewaltsame Niederschlagung des Protests auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking, Massenflucht und Demonstrationen im eigenen Land bis hin zu jenem Marsch der 70.000 am 9. Oktober in Leipzig, den die Staatsmacht gewähren ließ. Schließlich die Kundgebung auf dem Alexanderplatz am 4. November und der Mauerdurchbruch, der den demokratischen Impuls zur Umgestaltung der DDR „umknickte“. Schorlemmer ärgert sich über die, die sagen, es sei doch früh alles klar gewesen. Das sagten vor allem jene, die keinen Finger gerührt hätten. In Wahrheit sei nichts klar gewesen. „Wir waren nicht auf Massendemonstrationen vorbereitet, sondern auf Lager.“
"Ich bin nicht traurig oder verbittert"
Nun sind 25 Jahre vergangen. Statt weiter mit pointierten Thesen die Öffentlichkeit wachzurütteln, hat Schorlemmer jenen Zweitwohnsitz am Ort der Kindheit genommen - mit Blick auf Sankt Johannis, von dessen Turm er als Kind einst herunter fiel. Er genießt die Stille und den weiten Himmel, mischt sich ein gegen den neuen Kalten Krieg oder die Potsdamer Garnisonkirche. Zugleich genießt er das Spatzentschilpen auf seinem Grundstück. „Einfach schön“, sagt er, dem die Zeitgeschichte meist erstes Lebenselixier war. Wer den Protestanten von Süden her besuchen will, der muss übrigens abends um 21 Uhr die letzte Fähre nehmen. Schorlemmers Welt wirkt abgeschlossen. Zufall ist das nicht.
Seine Urteile über die Gegenwart sind derweil milder als ehedem. „Ich bin nicht traurig oder verbittert – überhaupt nicht“, sagt Schorlemmer. „Ich lebe im Geltungsbereich des Grundgesetzes. Da kann ich froh sein. Trotz Turbokapitalismus.“ Der Ruheständler freut sich über Käseläden, Fußballer, die nach einem 7:1-Sieg gegen Brasilien einfühlsam mit den Geschlagenen umgehen, und „eine Kanzlerin, die bescheiden geblieben ist“.
Ganz zum Schluss verweist er auf seine 17-jährige Nichte, die kürzlich zu einer Freizeit ins Allgäu aufbrach und die Familie wissen ließ: „So, jetzt könnt Ihr Euch mal in Ruhe über Eure DDR unterhalten.“ Der Onkel lacht. Ja, die Deutsche Demokratische Republik geht jetzt unter. Tatsächlich. (MZ)
