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Vertriebene  Vertriebene : Plötzlicher Abschied

Von Friedl Kotzian 09.06.2020, 11:44
Das frühere Wohnhaus der Familie Stoklas in Stupna, wie es heute aussieht. Heidrun Vogt aus Sieglitz besucht es regelmäßig - es ist eine Reise zu den Wurzeln ihrer Familie.
Das frühere Wohnhaus der Familie Stoklas in Stupna, wie es heute aussieht. Heidrun Vogt aus Sieglitz besucht es regelmäßig - es ist eine Reise zu den Wurzeln ihrer Familie. Vogt

Am 1. August 1945 setzte die wilde Vertreibung unserer Dorfbewohner ein. Um 9 Uhr stand der Narodi Vybor vor der Tür und teilte uns mit, dass wir uns und nur mit Handgepäck bis 12 Uhr beim Gasthaus Stoklas einzufinden haben, da wir abgeschoben werden. Papiere, Geld, Wertsachen und Schlüssel mussten auf den Tisch gelegt werden. Vorsorglich hatte meine Mutter, Jule Kotzian, schon drei Rucksäcke genäht und gepackt, da im Geheimen die Kunde von den Vertreibungen aus anderen Dörfern zu uns gelangt war. Vom Gasthaus Stoklas wurden wir mit dem Lkw zum Bahnhof „Falkendorf“ (Horka) gebracht.

Meine Schwester Gretl war bei einem Bauern im tschechischen Nachbardorf Bilai arbeitsverpflichtet. Dorthin hat ihr der Tauchmann Josef die Nachricht übermittelt. Mit einem Fahrrad, die Tschechen hatten an ihrem Fahrrad die Luft abgelassen, fuhr sie bis nach Horka. An unserem Haus in Stupna hat sie noch einmal durch das Fenster geschaut, die Tür war bereits versiegelt. So nahm sie Abschied vom Elternhaus. Meine Großmutter war mit uns in Horka, wurde aber von ihrer Tochter Marie Spitschan nach Widach zurückgeholt.

Namen der Vertriebenen

An diesem Tag wurden mit uns die folgenden Familien vertrieben. Haus Nr. 100 - Marie Kotzian mit den Kindern Helga (10), Margit (8) und Werner (5), Haus-Nr. 69 – Franz Scharf mit Frau Marie und den Söhnen Erich (14), Franz (12) und Fritz (6) sowie Oma Marie (72); Haus Nr. 83 - Wendelin Stklos (67) mit seiner Frau Anna, Tochter Marie mit Kind Irene (15) und Tochter Amalia mit Sohn Wolfgang (1); Haus Nr. 63 - Anna Maly mit ihren Kindern Ottilie (15) und Siegfried (4); Haus Nr. 54 - Marie Jäger mit den Töchtern Irma (14), Maria (11), Helga (7) und Oma Mühl (65); Haus Nr. 25 - Anna Kuhn mit den Kindern Oskar (16), Edeltraud (11) und Werner (8); Haus Nr. 66 - Karl Goll mit Frau Barbara und Tochter Marie (16) sowie Frau Marie Stoklas (61); Haus Nr. 82 - Josef Stoklas (67) aus dem Gasthaus mit Frau Marie und Schwiegertochter Marie mit den Söhnen Hugo (14), Josef (10) und Günter (5); Haus Nr. 38 - Filomena Sturm mit ihren Kindern Johann (9) und Gerda (3). An weitere Familien kann ich mich nicht mehr erinnern.

Auf dem Bahnhof in Horka haben wir dann in einem Kohlen- und Heuschuppen übernachtet. Immer neue Vertriebene aus den umliegenden Dörfern trafen ein, unter ihnen auch unser Pfarrer, Alois Sommer aus Widach, der noch Schikanen ausgesetzt war. An den Tagen bis zu unserem Abtransport brachten uns einige Stupnaer Verpflegung. Am Nachmittag des 4. August wurden wir in offene Güterwaggons verladen, sehr eng zusammengepfercht, so dass kaum jemand sitzen konnte, geschweige denn liegen. Die Notdurft musste in einer Ecke des Waggons verrichtet werden. Die Fahrt dauerte die Nacht durch. Es kursierten Gerüchte, dass es nach Sibirien ginge oder dass man uns alle in der Elbe ertränken wollte. Als wir dann tatsächlich die Elbe erreichten, war die Angst sehr groß. Es ging aber weiter nach Teplitz-Schönau, wo man uns alle aus dem Zug holte.

Nichts zu essen und zu trinken, Wasser aus der Quelle

3. August 1945: Bei glühender Hitze über 30 Grad mussten wir den ganzen Tag steil bergauf laufen. Viele Leute, die schlecht laufen konnten, haben ihre Habseligkeiten noch weggeworfen. Ich trug dann die Rucksäckchen der Kinder meiner Tante und den meiner Mutter zeitweise mit. Auch den kleinen fünfjährigen Werner habe ich immer wieder eine Strecke des Weges getragen. Zum Essen und zum Trinken gab es nichts, außer mal einen Schluck Wasser aus einer Quelle. Die tschechischen Begleitsoldaten haben uns den ganzen Tag getrieben. Viele alte Leute sind vor Erschöpfung zusammengebrochen. Wer Glück hatte, wurde auf ein Fuhrwerk geladen, das ortsansässige deutsche Bauern zur Verfügung stellten. So haben wir dann am späten Nachmittag die reichsdeutsche Grenze erreicht. Die Tschechen machten hier noch einmal Leibesvisitation, und vielen Leuten wurde noch so manches weggenommen. Ich überzeugte einen Milizionär, dass die Kontrolle bei uns schon erfolgt war, und so kamen wir ungeschoren davon. Nun waren wir in Deutschland, und ein Tscheche sagte spöttisch: „Ihr wolltet doch schon immer ins Reich.“ Der erste Ort auf deutschem Boden war Geising. Vor dem Bahnhof, auf einer Wiese, war unser Nachtquartier, ohne Essen, Decken oder Schlafunterlagen.

Blick auf das zerstörte Dresden

4. August 1945: Im Laufe des Tages wurde ein Personenzug bereitgestellt, mit dem wir nach Dresden fuhren. Die Stadt sah grauenhaft aus nach der Bombardierung im Februar 1945. Vom Hauptbahnhof sind wir mit einem Sonderzug nach Gera gefahren. In Gera haben sich die ersten Familien getrennt, unter ihnen die Familie Jäger, die dort verblieb. Familie Stoklas (Gasthaus) und Familie Sturm mit neun Personen fuhren in Richtung Norden und zogen erschöpft bis nach Drebsdorf bei Sangerhausen, wo sie auf einem Gut Arbeit fanden und eine kleine Wohnung bekamen, die kaum für eine Familie als Unterkunft reichte. Wir wurden in Gera in die „Unterhäuser-Schule“ eingewiesen und konnten auf Strohsäcken das erste Mal ausruhen. Auch eine undefinierbare Suppe, die sehr bitter schmeckte, war die erste warme Mahlzeit seit der Vertreibung.

Übernachtet im Freien oder in Scheunen

Meine Mutter hatte etwas Geld am Körper versteckt, und so kauften wir uns, wie auch meine Tante, bei einem findigen Handwerker einen zweirädrigen Karren mit Holzrädern, die er über Nacht angefertigt hatte. Auch andere Familien taten das, und so zogen wir von Gera über Landstraßen wie die Zigeuner von Ort zu Ort bis nach Hermsdorf. Übernachtet haben wir im Freien oder in Scheunen. Vom Betteln und Mausen auf den Feldern und in Gärten haben wir uns ernährt.

In Hermsdorf war unsere Unterkunft ein ehemaliges Kriegsgefangenenlager der Russen. In den einzelnen Räumen saßen tausende Wanzen in den Ritzen der Holzbaren, die uns jede Nacht in Scharen überfielen. Außer uns waren im Lager noch die Familien Marie Kotzian, Franz Scharf, Wendelin Stoklas, Anna Maly, Anna Kuhn, Emil Goll und Karl Goll. Hier sind wir bis zum 23. Oktober geblieben, und dann wurden alle obengenannten Familien mit einem Lkw nach Sieglitz gebracht. Für jeden von uns begann jetzt ein neuer Lebensabschnitt.

Als wir in Sieglitz abends spät ankamen, versammelten wir uns in der Gaststätte „Fürstenkeller“. Die Einwohner mussten die vertriebenen Familien bei sich aufnehmen. Meine Mutter Irene Stoklas und ihre Familie wurden bei Alfred Reifarth einquartiert. Bei der Arbeit auf dem Feld und im Kuhstall lernte sie meinen Vater, Alfred Vogt, kennen, der den Bauernhof von meinem Großonkel Alfred Reifarth übernahm. Sie heirateten und bekamen sieben Kinder. Meine Mutter hat nie mit uns über die Vertreibung gesprochen.