Nach 60 Jahren Begegnung in Naumburg Nach 60 Jahren Begegnung in Naumburg : Freundschaft startet mit Mickymaus-Heft

Naumburg - Obwohl es erst Anfang Dezember war, fühlte sich Matthias Becker, als hätte er soeben die schönste Weihnachtsüberraschung geschenkt bekommen. Schloss sich doch der Kreis einer Geschichte, die vor ungefähr 60 Jahren begonnen hatte. Becker, bis vor kurzem Geschäftsführer eines in Naumburg bekannten Fotogeschäfts, besuchte damals die fünfte Klasse der Naumburger Michaelisschule. „Ab dieser Altersstufe wurde eine Fremdsprache verbindlich gelehrt. Was konnte das in der damaligen DDR anderes sein als Russisch“, erinnert sich Becker.
Zunächst Tamara und Igor
Mit mehr oder weniger Enthusiasmus versuchte sich der Junge Matthias - wie viele Tausende anderer Schüler - dieser slawischen Sprache zu nähern. Erste Vokabeln wie Stol, der Tisch, oder Ukaska, der Zeigestock, wurden gelernt. Freude kam erst dann auf, als die damalige Russischlehrerin darauf hinwies, dass die Schüler ihre Kenntnisse vertiefen könnten, indem sie mit Partnern aus der damaligen UdSSR Briefe schrieben. Gesagt, getan. Also schrieb Matthias an Tamara aus Nowosibirsk sowie Igor aus Leningrad und erhielt alsbald Antwort. Allerdings hielt sich die Korrespondenz in einem gewissen Rahmen, denn der Wortschatz beider Seiten war begrenzt. Desto größer war die Freude über den Tausch von Briefmarken und Passfotos. Matthias hatte Spaß daran, denn neben seinem Hobby Sport sammelte er auch diese bunten Zettel, Wertzeichen genannt.
Durch einen großen Zufall bekam Becker in dieser Zeit außerdem ein „Mickymaus“-Heft in die Hände. Er schaute nicht nur den damals von Staat und SED als „Schund- und Schmutzliteratur“ bezeichneten Comic aus dem kapitalistischen Ausland an, sondern fand auch eine Rubrik: „Brieffreunde gesucht“. Ein gleichaltriger Junge aus Brasilien hatte seine Adresse angegeben. Er wolle sich mit einem Deutschen schreiben, nicht in seiner Heimatsprache Portugiesisch, sondern in Deutsch. Warum sollte er da nicht einmal hinschreiben, dachte sich Matthias. Es dauerte einige Wochen, dann landete eine sehr exotisch aussehende Briefsendung im Briefkasten der Beckers. Ein gewisser Donato aus der Kleinstadt Corupa in Santa Caterina im Süden Brasiliens hatte dem kleinen Matthias aus Naumburg geschrieben.
Urgroßvater aus Böhmen
„Erstaunlich war, dass der Briefwechsel damals noch nicht so intensiv durch die Behörden kontrolliert wurde, so begann ein reges Hin und Her“, schaut Matthias Becker heute auf diese Zeit zurück. „Es wurden persönliche Dinge geschrieben, Briefmarken getauscht und Bilder geschickt. Donato berichtete, dass sein Urgroßvater seinerzeit aus Böhmen ausgewandert war, also auch ein wenig deutsches Blut in ihm floss.“ Inzwischen, so berichtete Donato, habe sein Großvater ein Orchideenimperium aufgebaut, wie auch aus einem Briefkopf hervorging. „Südamerikas größter Orchideenbetrieb“, stand da aufgedruckt. Donato wohnte - und wohnt noch heute - in einer Straße, die nach seinem Großvater benannt ist. Einmal schickte der Brieffreund brasilianische Münzen nach Naumburg, die er in eine Pappe eingelassen hatte. Beigefügt war ein kleiner Zettel: „Lieber Zoll, lassen Sie bitte die Münzen an meinen Freund Matthias durch.“ Und tatsächlich, der Brief kam wohlbehalten an. Vielleicht lag das daran, so vermutet Matthias Becker, dass in der Zeit vor dem Mauerbau 1961 die Postkontrolle noch nicht so streng genommen wurde wie später,
als die Stasi den Briefverkehr in
den Westen und umgekehrt lückenlos kontrollierte. Womöglich hätte die Familie dann Ärger wegen Devisen-Vergehen bekommen.
„Donato hingegen bekam von mir die von ihm gewünschte ostdeutsche Nationalhymne in Noten und im Text. Er sammelte damals so etwas“, erinnert sich der Naumburger.
Nach einigen Jahren allerdings wurde es ruhiger zwischen den beiden. Briefe wurden nur noch sporadisch geschrieben oder kamen nur noch gelegentlich an. „Man kann es heute nicht mehr nachvollziehen, vielleicht wurden solche Kontakte mit Bürgern aus dem Nicht-Sozialistischen Wirtschaftsgebiet auch bewusst unterbunden.“ 50 Jahre vergingen, ohne dass ein Brief gewechselt wurde. Bis 1989. Die Ereignisse der Wende veränderten das Leben in der DDR komplett, Grenzen waren plötzlich geöffnet. Und mit dem Internet, das bald Einzug hielt und das dann mit E-Mails, WhatsApp oder Facebook neue Kommunikationsmöglichkeiten schuf, änderte sich vieles.
Auch zum Negativen: „Kontaktanfragen“ und Angebote fluteten herein, sobald Becker etwas im Internet suchte. Als er eines Tages auf seinem Smartphone via Facebook eine E-Message erhielt, wollte er sie schon löschen, las dann aber: „Donato aus Brasilien. Eine Erinnerung?“
Becker dachte nach, dann jedoch funkte es: War das nicht sein früherer Brieffreund? Er schrieb sofort zurück: „Hallo Donato, bist du das wirklich? Das ist toll - nach gefühlten 50 Jahren … freue mich auf den Kontakt!“ Kurze Zeit später meldete sich der Brasilianer telefonisch, und so konnten die beiden erstmals nach über einem halben Jahrhundert ihre Stimmen hören. „Er hat sein Deutsch nicht verlernt, und so wurde fast eine Stunde lang geschwatzt“, schildert Matthias Becker.
Weshalb aber hatte sich Donato nach so langer Zeit wieder auf den Brieffreund aus der ehemaligen DDR besonnen? Bei einem Besuch Deutschlands hatte er an der Autobahn 9 den Stadtnamen Naumburg gelesen und sich an seinen einstigen Brieffreund erinnert. Recherchen im Netz brachten ihn dann auf den richtigen „Becker“. In diesem Fall ein großer Vorteil des WWW!
Eineinhalb Jahre vergingen, die beiden hatten miteinander regen WhatsApp-Kontakt, Bilder, Sprachnachrichten und Texte wurden nun zwischen den Kontinenten hin und her geschickt. Corupa - dort wohnt Donato noch heute - ist 90 Kilometer von Blumenau entfernt, das einen Hauch deutscher Kultur aufweist. Alte Fachwerkhäuser sind genauso präsent wie Gartenzwerge. Selbst ein Oktoberfest wird dort gefeiert. Videos ließen Becker an das Fest in München erinnern. Auch die Orchideenfirma existiert noch immer. Allerdings hat nun der Sohn das Ruder in der Hand.
Herzklopfen auf beiden Seiten
Nach diesem virtuellen Kontakt kam rasch der Gedanke, sich nun auch persönlich kennenlernen. In der ersten Dezemberwoche war es dann soweit. Donato kam mit seiner Frau nach Deutschland! Weihnachtsmärkte waren das Ziel der beiden. Von Nürnberg aus fuhren sie mit einem Mietauto nach Naumburg.
„Herzklopfen auf beiden Seiten, endlich konnten wir uns nach 60 Jahren das erste Mal umarmen. Bei einem zünftigen Schluck Bier im Hackerbräu wurden die ersten Worte gewechselt“, berichtet Matthias Becker Die urige Gaststätte am Naumburger Steinweg erinnerte Donato an die deutschen „Ausläufer“ seiner brasilianischen Heimat. Anschließend wurde der Dom besichtigt, von dem Donato bereits wusste, das er kürzlich in das Unesco-Welterbe aufgenommen worden war. Matthias Becker zeigte dem Gast-Ehepaar die Besonderheiten Naumburgs und natürlich das Foto-Geschäft in der Jakobsstraße. Ein Besuch des Weihnachtsmarktes beendete den Stadtrundgang. Im Anschluss wurde zu Hause tüchtig geschwatzt. Da Donato perfekt und fast akzentfrei deutsch spricht, konnten sich die Familien auch über besondere Themen wie den Umweltschutz in Südamerika unterhalten.
Partnerin lernt Portugiesisch
Leider hatten die brasilianischen Gäste nicht allzu viel Zeit. Dennoch wurde in Bad Kösen das Gradierwerk besucht, auch die Besichtigung der Rudelsburg durfte nicht fehlen.
Sehr traurig waren alle, als die Brasilianer in ihr Auto stiegen, um weiterzureisen nach Dresden. Es gab herzliche Umarmungen, kleine Tränen wurden vergossen. Eigentlich so, als ob man sich schon seit Jahren kenne und sich regelmäßig besuche. Beckers müssten natürlich nach Brasilien kommen, das sei Pflicht, sprach Donato eine Einladung. Die Naumburger versprachen es, aber bis dahin muss das Internet noch dienen, die Freundschaft, die vor 60 Jahren begann, weiter zu festigen. Gudrun, Matthias Beckers Partnerin, kündigte an, bis dahin ein wenig Portugiesisch zu lernen, um mit den Einheimischen sprechen zu können.
Bleibt die Frage: Was ist aus Tamara und Igor geworden? Aber wer weiß: Vielleicht grüßt das Internet bald!