Naturschutz auf vier Beinen ICE-Strecke Berlin-München: Bahn engagiert 600 Schafe für neue ICE-Strecke

Kahlwinkel - Das Schmatzen kommt von 600 Schafen, der Hang ist voll von ihnen, Meter um Meter arbeiten sie sich vor. Sie fressen Gras, Disteln, Disteln, Gras, alles, was ihnen vor die hungrigen Mäuler kommt.
„Wenn sie jetzt über Nacht eingepfercht wären, wäre hier morgen alles kahl“, sagt Dirk Meyer, 52. Aber morgen will der Schäfer schon auf einer anderen Weide sein mit den Tieren. Morgen arbeiten die Schafe wieder für die Deutsche Bahn.
Es handelt sich um Merino-Fleisch-Schafe, sie gehören dem Landwirtschaftsbetrieb Kahlwinkel Agrar KG - 22 Mitarbeiter, 2.100 Hektar Acker- und Grünland, Hähnchen- und Putenzucht. Und Schafe.
Schafe im Auftrag der Deutschen Bahn: Wellness-Kur für die Natur
Mindestens zweimal im Jahr pflegen die wolligen Wiederkäuer im Auftrag der Bahn wertvolle Trocken- und Magerrasenflächen an der ICE-Strecke, insgesamt mehr als 70 Hektar.
Pflegen heißt in diesem Fall: Sie fressen das Gras ab, verbeißen Büsche, treten den Boden fest. Die Schaf-Beweidung kommt einer Wellness-Kur für die Natur gleich: „Die Schafe sorgen für mehr Artenreichtum“, erklärt Roland Braune, der Chef des Landwirtschaftsbetriebes.
Die Landschaftspflege auf die sanfte Tour gebe auch seltenen Pflanzen eine Chance zum Wachsen. „Botaniker, die ich über die Flächen führe, sind immer ganz begeistert davon.“ Im Naturschutzgebiet Dissau-Rinne etwa, eine der bahneigenen Flächen unterhalb der Unstruttal-Brücke, gedeihen wertvolle Orchideen.
Schafe pflegen Natur an ICE-Strecke: Naturschutz ist Verpflichtung für Deutsche Bahn
Die Pflanzenvielfalt wiederum zieht Insekten an, die ihrerseits Nahrung für Vögel bieten. Forscher sprechen von steigender Biodiversität, also einem wachsenden Reichtum an Tier- und Pflanzenarten.
Diesen Effekt machen sich auch andere zunutze. So setzt etwa Sachsen-Anhalts Landesweingut Kloster Pforta in einem Forschungsprojekt Schafe zur Bodenpflege zwischen den Rebstöcken ein.
Für die Bahn ist der Naturschutz auf vier Beinen eine Verpflichtung: Die Schaf-Beweidung zählt zu den sogenannten Ausgleichsmaßnahmen. Das sind Projekte, mit denen der Verkehrskonzern die Eingriffe kompensiert, die beim Bau der ICE-Trasse verursacht worden sind.
Naturschutz an ICE-Strecke der Deutschen Bahn: 4.000 Hektar Landschaften beim Bau berücksichtigt
Und das waren eine ganze Menge. Schließlich haben die Bautrupps zwischen Halle und dem fränkischen Erlangen 27 Tunnel und 37 Talbrücken in die Landschaft geschlagen.
Die Ausgleichsmaßnahmen sind gesetzlich vorgeschrieben; darunter fällt auch das Pflanzen neuer Gehölze, die Anlage von Grünflächen oder die Renaturierung von Gewässern. Alles in allem hat die Bahn entlang der Trasse auf einer Fläche von 4.000 Hektar Landschaften rekultiviert oder neu angelegt.
Das Schafsprojekt erscheint da vergleichsweise als Klacks. Für den Agrarbetrieb ist die Beweidung „eine Dienstleistung“, wie Geschäftsführer Braune sagt.
ICE-Strecke Berlin-München eröffnet: Schäfer, Resi und Chili passen auf Schafe auf
„Wir machen Umsatz mit unseren Tieren.“ Auf diese Weise könne das Unternehmen mit der Schaf-Wirtschaft eine schwarze Null erzielen. Allein mit dem Verkauf vom Lammfleisch, der auch zum Geschäftsmodell zählt, sei das nicht möglich. Insofern, sagt Braune, sei die Beweidung im Auftrag der Bahn „eine schöne Ergänzung“.
Die 600 Schafe auf dem Hang arbeiten sich derweil gemächlich weiter vor, fressend und schmatzend. Schäfer Meyer steht mit Hündin Resi, drei Jahre alt, am Rand.
Oberhalb der Herde, wo der Hang in die Ebene übergeht, läuft die zweite Hütehündin, Chili, sieben Jahre alt, hin und her. Sie wacht darüber, dass die Schafe nicht aufs benachbarte Rapsfeld ausweichen und sich dort gütlich tun.
Schafe sorgen für Naturschutz an ICE-Strecke: Kraftfutter für Tiere
Die Schafe wirken genügsam. Aber sind sie es auch? Meyer verzieht den Mund zu einem Grinsen. „Die sind wählerisch“, sagt er. „Die fressen zuerst, was ihnen am besten schmeckt.“
In erster Linie sei das frisches Gras. Und, nach der Getreide-Ernte, auf den Feldern liegengebliebene Körner. „Das ist wie Kraftfutter“, sagt der Schäfer. Seine vierbeinigen Schützlinge gehen aber auch gerne an Brennnesseln.
Doch Meyer meint: „Da könnten wir erstmal Frost gebrauchen.“ Temperaturen unter dem Gefrierpunkt trockneten die Brennnesseln aus, diese seien dann bekömmlicher.
Schafe an ICE-Strecke Berlin-München: Tiere sollen sich satt fressen
Es ist gewollt, dass die Tiere sich satt fressen. „Wir halten sie nicht knapp“, sagt Roland Braune, Meyers Chef. „Sie sind für uns ein Wirtschaftsfaktor.“ Auch deshalb hat sich der Agrarbetrieb für diese Rasse entschieden:
Weil Merino-Fleisch-Schafe beides liefern, Wolle und Fleisch. „Und weil sie marschtauglich sind“, so Braune. „Mit einer anderen Rasse können Sie nicht täglich drei bis vier Kilometer laufen.“
Die Tiere aber sollen jeden Tag umziehen, um möglichst viele Flächen beweiden und pflegen zu können, eigene und die externer Kunden wie der Bahn.
Schafe an ICE-Strecke: Schäfer weiß wie seine Tiere ticken
Braune spricht deshalb auch von einer „Wanderschäferei“. Zwar gibt es in Saubach, einem Dorf in der Nähe, einen Schafstall. Dort aber werden die Tiere nur während der Wintermonate gehalten, wenn die Lämmer geboren werden.
Ansonsten halten sie sich Tag und Nacht im Freien auf, nachts eingepfercht mit Elektrozäunen, tagsüber gehütet von Schäfer Meyer und den Hündinnen Resi und Chili. „Im letzten Winter war ich sogar bis Mitte Januar mit ihnen draußen“ erzählt Meyer.
Er übt diesen Beruf seit mehr als zehn Jahren aus, mit Unterbrechungen. Er weiß, wie seine Herde tickt. „Ich lasse sie so lange hier fressen, wie sie mögen“, sagt er. Woran er merkt, dass sie nicht mehr wollen? „Wenn sie einfach nur herumstehen, haben sie genug.“ Meyer deutet auf den Hang gegenüber: „Dann gehen wir rüber auf die Wiese und suchen uns Gras, das noch grün ist.“ Dann wird wieder gleichmäßiges Schmatzen die Luft erfüllen. (mz)