Gernstedt Gernstedt : Winterpause

Zugegeben, man braucht in dieser tristen Jahreszeit schon etwas Fantasie, um dem kleinen Gernstedt so etwas wie dörfliche Idylle abzugewinnen. Es ist an einem Vormittag, als wir uns bei Helmut Judersleben in der Nummer 33 angemeldet haben. „Ein großes Gehöft - das findet ihr“, sagt er am Telefon. Das Wetter ist mies, die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt, es nieselt leicht. In Gernstedt bedeutet das abseits der B87: Die Straßen und Wege sind sauglatt. Das Auto macht einen Schlenker auf dem vereisten Kopfsteinpflaster. Einen Winterdienst scheint es hier nicht zu geben. Vielleicht eine Ausnahme, seien wir mal nicht so kleinlich.
Man könnte viele Gründe aufzählen, warum Helmut Judersleben unser Ansprechpartner ist. Dass er vor knapp 30 Jahren den „Liederkreis am Lanitztal“ ins Leben gerufen hat? Zahllose Trauerfeiern mit teils selbst komponierter Musik begleitet und dabei einfühlsame Worte für Verstorbene und Zurückgebliebene findet? Dass sein Großvater 43 Jahre lang Bürgermeister von Gernstedt gewesen ist? Oder: Dass Helmut Judersleben seinen 80. feiern konnte? All das. Aber auch, weil es schwierig bis fast unmöglich war, weitere Kontakte zu bekommen. „Nein, danke, muss nicht sein“, hieß es hier und da. Ein Dorf-Report aus Gernstedt sollte es trotzdem werden, denn hier hatte das Burgenland-Journal noch nie angeklopft. Also.
Helmut Judersleben ist aus vorgenannten Gründen kein Unbekannter, vor allem ein offener Gesprächspartner. Dass er schon fast wieder auf dem Sprung zur nächsten Trauerfeier ist, merkt man ihm nicht an. Ob ihn all die Trauer nicht hin und wieder resignieren lässt? „Nein, ich freue mich, wenn ich andere trösten kann und mir hinterher gesagt wird, dass meine Musik und meine Worte herzlich waren und angekommen sind. Dann weiß ich auch, ich habe die Seele der Menschen erreicht.“ Dass man mit 80 selbst nicht mehr der Jüngste ist, kümmert Judersleben nicht - sagt er zumindest. „Vor fünf Jahren stand mein Leben wegen einer schweren Erkrankung auf des Messers Schneide. Auch deswegen bin ich glücklich über jeden Tag - und vor allem, ich fühle mich wohl, im Grunde wie ein 49-Jähriger“, so der Jubilar, der es auch anders ausdrückt: „Ich zähle mich zur reiferen Jugend.“ Er meint das ernst, ein Augenzwinkern war nicht zu sehen.
Judersleben ist ein Kind vom Lande, durch und durch, auch, wenn er heute mal in Gernstedt, mal in Naumburg lebt. Er ist mit der Landwirtschaft groß geworden, hat sie gelernt und gelehrt und besitzt immer noch Acker, wenngleich er ihn nicht selbst bewirtschaftet. Zum traditionellen Druschfest in Möllern kann er berichten, wie es einst auf den Feldern zugegangen ist. Doch Judersleben ist auch ein Feingeist, entdeckte schon als Knirps den Hang zur Musik, stieg gern mal in den Zug nach Weimar, um vor der Musikhochschule zu lauschen - lang ist’s her. Mit dem „Liederkreis am Lanitztal“ spielt er heute jedes Jahr zur Adventszeit in der Lutherkirche von Bad Kösen Spenden zugunsten der Kinderkrebshilfe ein.
In Magdeburg Geld locker gemacht
Apropos Kirche. In Gernstedt gehört das Gotteshaus zu Juderslebens Lieblingsplätzen. Bei seinem Werdegang kein Wunder, und doch hat er eine ganz besondere Beziehung zu ihm. In den 1960er Jahren konnte er eine Fuhre mit Schiefer sichern, um die 1895/96 errichtete Kirche, die vor dem Verfall stand, mit einem Dach wenigstens wieder trocken zu bekommen. Und als Kreissynodaler vermochte er es gleich nach der Wende, dass die Kirchenleitung in Magdeburg das Gebäude als „unbedingt erhaltenswert“ einstufte und einen sechsstelligen D-Mark-Betrag lockermachte.
Ein Züchter im einstigen Gasthof
Heute zeigt sich die Kirche mit ihrem schlank-spitzen Turm und ungewöhnlich freistehend am Ortsrand in einem freundlichen und einladenden Zustand. Die Wände innen sind weiß getüncht, die alten braunlasierten Bankreihen stehen in angenehmen Kontrast dazu, flankiert von den prächtigen wie farbenfrohen Bleiglasfenstern, die nach dem Krieg fast ausgebaut worden wären. Wie es sich gehört, steht der Weihnachtsbaum bis Maria Lichtmess. Doch werfen wir einen Blick zu Siegfried Zille. Der 64-Jährige wohnt in einem markanten Gebäude - wenngleich es schon bessere Zeiten gesehen hat -, der alten Dorfkneipe. Bis 1965 gab’s die als „Gasthof zum goldenen Hufeisen“. Nun, heute eher ein rostiges, wie auch Zille einräumt. Der Gernstedter pflegt zwei Hobbys, den Fußball und die Taubenzüchterei. Ersteres vornehmlich als Schiedsrichter im Kreis, aber auch landesweit. Mit den Tauben hat er’s seit der Kindheit, den ersten Naumburger Taubenmarkt besuchte er 1965. „Jetzt bin ich zweimal im Jahr dabei, das ist Pflicht und immer ein Erlebnis“, sagt Zille. Zum Verkauf stellt er King- und Brieftauben sowie Texaner.
Noch mal zurück zur Familie Judersleben. Helmuts Enkel Lukas hat sich in der Landwirtschaft beziehungsweise mit ihr selbstständig gemacht. Vor fünf Jahren startete er mit einem, sagen wir mal, Transportunternehmen durch. Einem, das im wahrsten Sinne des Wortes zum Himmel stinkt, aber ein geregeltes Einkommen beschert: Lukas Judersleben fährt Gülle aus. Im Auftrag für Bauern auf deren Felder oder - so wie jetzt im Winter - zum „Umverlagern“, womit unter anderem die Biogasanlage in Nohra bei Weimar gemeint ist. Der 27-Jährige kann sich dabei mit zwei John-Deere-Traktoren und zwei Fass-Anhängern auf einen modernen Fuhrpark verlassen. Die Entscheidung, sich selbstständig gemacht zu haben, bereut er nicht. „Es brauchte etwas Zeit, doch jetzt geht’s gut“, sagt er, gibt aber zu, dass er dafür ordentlich knuffen muss. Und will. „Ich brauche das inzwischen, das Handy muss immer klingeln.“ Fest steht, einen ausgedehnten Urlaub hat Lukas Judersleben, der mit Lebensgefährtin im Familien-Gehöft lebt, lange nicht gehabt. Wie den Großvater, so hält es auch ihn in Gernstedt, wenngleich das Dorf wenig zu bieten hat. „Es gibt nicht mehr den Zusammenhalt wie früher, keinen Verein, keine Veranstaltungen, nicht einmal die Straßenlampe an der Ecke wird gewechselt. Der Dorfteich riecht im Sommer ziemlich übel“, macht sich Judersleben Luft. Im Vergleich zu anderen Dörfern ist man hinten angestellt, so sein Empfinden. Übrigens auch beim Winterdienst. Aha.
Nur zwei Arbeiter für elf Dörfer
Karl-Friedrich Altenburg, Bürgermeister von Lanitz-Hassel-Tal, will das so nicht durchgehen lassen: „Wir haben für elf Dörfer nur zwei Gemeindearbeiter mit jeweils sechs Stunden Arbeitszeit am Tag - da sind die Grenzen eng gesteckt. Aber wir tun, was wir können, in jedem Dorf wird geräumt und gestreut, wenn auch nicht immer gleich.“ Da unterscheide sich die Gemeinde aber nicht von anderen, auch in Naumburg seien manche Straßen noch am Nachmittag nicht frei. Stimmt. Den Dorfteich wolle er sich im Frühjahr anschauen. „Falls der aber ausgehoben werden muss, geht das nur über die Verbandsgemeinde - wegen der Kosten und weil der Schlamm ja entsorgt werden muss“, so Altenburg.
Am frühen Nachmittag sind die Straßen und Wege in Gernstedt fast eisfrei - und am Westhimmel wird’s heller. „Die Sonne soll noch rauskommen“, sagt Helmut Judersleben mit Verweis auf den Wetterbericht. Recht sollte er diesmal nicht behalten. Aber, was juckt’s ein sonniges Gemüt wie ihn?