1. MZ.de
  2. >
  3. Mitteldeutschland
  4. >
  5. Burgenlandkreis
  6. >
  7. Georgenviertel : Georgenviertel : Sto Gramm für Offiziere

Georgenviertel  Georgenviertel : Sto Gramm für Offiziere

Von Klaus-Dieter Kramer 04.12.2017, 12:52
Damals wie heute ein begehrtes Eckchen zum Wohnen: das Georgentor in Naumburg.
Damals wie heute ein begehrtes Eckchen zum Wohnen: das Georgentor in Naumburg. KDK

Der Begriff „Georgenviertel“ ist in Naumburg selten gebräuchlich. Dabei taucht der Namens-Vorsatz „Georgen“ im Stadtplan oft auf: Georgenstraße, Georgengasse, Georgenberg, Georgenmauer, Georgenturnhalle, Georgenschule oder Unterm Georgenberg. Touristengruppen verirren sich selten hierher. Nur wenige Naumburger kommen auf die Idee, ihre Schritte bei Spaziergängen in dieses „Stück Mittelalter“ zu lenken. Denn ein erster Teil der Stadtentwicklung hat sich hier abgespielt. Es lohnt sich, durch die genannten Straßen zu streifen und nach Spuren und Erinnerungen Ausschau zu halten.

Da, wo die meisten Gäste ihre Tour durch Naumburg längst beendet haben, nämlich an der nördlichen Längsseite des Doms, starten wir. Am Domplatz beginnt die Georgenstraße. Hier steht linksseitig bis zum Georgentor nur noch ein einziges Gebäude - die Nummer 36. Blass-bläulich-grau angestrichen, vermittelt es ein schlichtes Aussehen. Hier wohnt seit der Wende Hans Pusch mit Ehefrau Anneliese. Zeitlebens ist der 91-Jährige rund um den Dom zu Hause gewesen, ist hier geboren worden, in die Georgenschule gegangen, hat einen Beruf erlernt, kennt die Ecke wie seine Westentasche. Pusch weiß, wer in der Nr. 36 über 40 Jahre hinweg seine „Vormieter“ waren.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörte diese Seite der Georgenstraße mit zu der sowjetischen Garnison, wo im Gebäude des Oberlandesgerichts ein Divisions-Stab der Roten Armee untergebracht war. Das ganze Gelände samt der damals noch stehenden kompletten Häuserzeile längs der Georgenstraße war mit einem mehr als mannshohen Holzzaun abgetrennt, der meist bläulich-grau angestrichen war. Das Haus Georgenstraße Nr. 36 diente als Teil der Eingangspforte. Darin war aber auch eine der Verkaufsstellen der Sowjets („Magazin“) untergebracht, wo auch die deutsche Bevölkerung durchaus mal „Bückware“ erstehen konnte.

Die Georgenstraße runde 500 Meter weiter in Richtung Bergstraße zieht rechter Hand ein äußerlich desolat wirkendes Gebäude die Blicke auf sich: das beliebte ehemalige Gasthaus „Zur Weintraube“ mit seinen großen runden Stammtischen und separatem Vereinszimmer. Vor und nach dem Weltkrieg führte hier der Wirt Walter Kosock die Geschäfte. Nach 1945 verhalf Kosock dem Naumburger Boxsport wieder auf die Beine. Von 1966 bis zu seinem Tode 1982 hieß der Wirt Werner Tetzel, unterstützt von Ehefrau und Tochter. Die Stammtische waren mit Handwerkern, Sportlern oder Feuerwehrleuten gut belegt, die sich nach Arbeit und Dienst hier zum Skat- oder Doppelkopfspiel trafen und bei Rostbrätel, Bockwurst oder Solei ihr Feierabendbier tranken. Eine Besonderheit: Am Abend kamen die Offiziere aus der nahen Garnison mit ihren Koffern voller Trockenfisch oder Speck hierher. Stets eilte Werner Tetzel sofort mit einem Wodka-Tablett voller „Sto-Gramm-Gläser“ ins Vereinszimmer. Später, wenn auch für die Offiziere Zapfenstreich geboten war, verschwanden die „Freunde“ wieder hinter ihrem Bretterzaun. Die „Weintraube“ nahm später eine traurige Entwicklung, zuletzt als Rotlicht-Absteige. Jetzt verrottet das Haus langsam, aber sicher. Am Haus schräg gegenüber lockt die Schaufensterauslage die Blicke auf sich. Hier wird mit Blechblasinstrumenten nicht nur gehandelt, hier werden sie seit fast 60 Jahren auch repariert und hergestellt. Matthias Fiedelak betreibt mit großer Meisterschaft - per Brief und Zertifikat so auch bestätigt - sein selten gewordenes altes Handwerk. Trompeten, Posaunen, Tuben und Hörner sind sein Metier. Adolf Fiedelak, sein Onkel und Lehrmeister, hatte hier 1959 begonnen. Der 88-Jährige lebt jetzt in einer Freyburger Altenpflegeeinrichtung. Neffe Matthias, gebürtiger Freyburger, nahm 1985 bei ihm eine Lehre auf und legte 1990 in Markneukirchen die Meisterprüfung ab. Drei Jahre später machte sich Matthias Fiedelak selbstständig. Heute leitet er im Ehrenamt den Freyburger Posaunenchor, spielt selbst dieses Instrument. Wer sich für Handwerk und Meister interessiert, der sollte sich die sehr zu empfehlenden Videos auf seiner Internetseite anschauen.

Von der Georgenstraße zweigen die Georgengasse einerseits und der Georgenberg gegenüber ab. Am Georgenberg sind imposante alte Villen zu bewundern, in denen Anfang des 20. Jahrhunderts etliche hohe Ruhestands-Offiziere oder deren Witwen wohnten. Auch die Altenpflegeeinrichtung „Villa Kunterbunt“ und ein Pflegedienst sind hier angesiedelt. In der Georgengasse gab es noch vor 70 Jahren gleich mehrere Gemüse- und Blumengärtnereien. Hans Pusch erinnert sich: „Da hatte Schorsch Bornschein, überall nur Blumenkohl-König von Naumburg genannt, sein Reich. Der hatte Felder auf den Moritzwiesen und an der Brückenstraße.“ Auch Gerd Bergmann, der bekannte ehemalige Hotelier der „Alten Schmiede“, kennt Bornschein noch: „Ich bin in der Georgengasse geboren worden, Hebamme Martha Utesch hat mir hier auf die Welt geholfen. Als Bornschein heiraten wollte, hat man ihm aus Jux am Vorabend die Haustür zugemauert.“