Bombenkrieg Bombenkrieg: Leseprojekt erinnert an die Zerstörung von Halberstadt
Halberstadt/MZ. - Als höchste Punkte des Metallreliefs ragen die Türme der Martinikirche in die Höhe, deren Uhrzeiger an diesem Tag um 11.28 Uhr stehenblieben.
"Dem Gleich fehlt die Trauer" heißt das Projekt, das in diesen Minuten seinen Anfang nimmt. Das Nordharzer Städtebundtheater hat sich durch Texte des gebürtigen Halberstädters Alexander Kluge zu einer eigenen Sammlung von Augenzeugenberichten inspirieren lassen. Gemeinsam mit der Stadt und mit zahlreichen Vereinen ist daraus eine raumgreifende Lesung entwickelt worden, die zeitgleich im Keller der Bibliothek und in der Kunsthof-Galerie, im Theater und in der Martinikirche stattfindet. Den Titel, der die Trägheit des Herzens beschreibt, fand man in Friedrich Hölderlins Gedicht "Mnemosyne".
Tatsächlich schienen sechs Jahrzehnte nötig, bis das öffentliche Gespräch über die Katastrophe möglich wurde. Am Frühstückstisch in der Pension zeigt ein älterer Herr sein Fotoalbum und erzählt von den Formationen der amerikanischen Bomber: "Ein Korridor von 960 Metern". In der Martinikirche beugen sich Frauen über die Listen, die allein für den 8. April 1945 insgesamt 1 362 namentlich bekannte Opfer verzeichnen - rund 500 anonyme Toten nicht mitgerechnet. Daneben aber liest man von Hitler-Hörigkeit nach 1933, von Deportation der letzten Halberstädter Juden und von Durchhalteparolen nach Stalingrad. Das darf ebenso wenig vergessen werden wie das benachbarte Konzentrationslager Langenstein-Zwieberge, in dem sich an diesem Wochenende ehemalige Häftlinge zum Gedenken an ihr Leid versammeln.
Bereits am Vorabend hatte der Filmemacher und Autor Alexander Kluge bei seiner Lesung im Theater von einer "großen Ehre und ernsten Aufgabe" gesprochen. Nun verliest er das Redemanuskript von Bundespräsident Horst Köhler, der seinen Besuch wegen der Beisetzung des Papstes absagen musste: "Im Bombenkrieg sind deutsche Schuld und deutsches Leid ineinander verwoben", heißt es darin.
Was das konkret heißen kann, erfährt man wenig später bei den Lesungen und in den Ausstellungen: Im Kunsthof trägt eine junge Frau die Erinnerungen an Ingetraut Erdmann vor, die zwei Wochen nach ihrer Konfirmation unter den Trümmern der Franzosenkirche begraben wurde: "Wie soll man eine Kirche beiseite räumen?", heißt die hilflose Frage der Überlebenden. Im Bibliothekskeller erfährt man von den Luftschutz-Wächterinnen Zacke und Arnold, die auf den Martini-Türmen stationiert waren - und von denen nur eine den Abstieg durch den brennenden Schacht überlebte.
Es ist ein seltsam stiller Tag, den die Glocken vom Dom, von der Martini- und der Liebfrauenkirche eingeläutet haben. Während man im Stadtmuseum die apokalyptischen Gemälde des Augenzeugen Walter Gemm betrachtete, während man den Reden an der Ruine der Franzosenkirche lauschte oder im Theater an den Schülerzeichnungen vorbeischritt, ist sogar die Sonne herausgekommen.
So muss es auch an jenem 8. April 1945 - einem Sonntag - gewesen sein. 550 Tonnen Bomben hinterließen wenig später ein Trümmerfeld, das man zu einer Pyramide von 220 Metern Seitenlänge und 100 Metern Höhe hätte aufschichten können. Von solcher Verheerung könnten auch andere Städte erzählen. Halberstadt hat es getan.