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Aktion «Ungeziefer» Aktion «Ungeziefer»: Vor 55 Jahren wurden 3500 Thüringer zwangsausgesiedelt

Von Claudia Götze 07.06.2007, 06:21

Erfurt/dpa. - «Ausgesiedelt wurdenalle Menschen, die den Machthabern als nicht politisch einwandfreierschienen», sagt Georg Wagner, Vorsitzender des «Bundes der in derDDR Zwangsausgesiedelten» (BdZ). In Thüringen waren 967 Familien inelf Kreisen betroffen. Ohne Vorwarnung wurden die Bewohner zwischendem 5. und 7. Juni zu nächtlicher Stunde aus den Betten geholt undihr Hab und Gut auf Laster verladen.

Insgesamt 8331 im Grenzgebiet lebende DDR-Bürger verloren im Maiund Juni 1952 gewaltsam ihre Heimat. Die meisten davon - 3540 - kamenaus Thüringen, informiert Andrea Herz, Historikerin bei der ThüringerStasiunterlagenbehörde. In Sachsen traf es 546, in Sachsen-Anhalt2148 und in Mecklenburg-Vorpommern 2097 Menschen. Der Ministerrat derDDR hatte am 26. Mai 1952 beschlossen, die Grenze zu Westdeutschland zur Sicherheitszone auszubauen. Binnen weniger Tage wurden dieBewohner dieser fünf Kilometer tiefen Sperrzone überprüft und die alspolitisch unzuverlässig Eingestuften unter dem zynischen Tarnwort«Ungeziefer» umgesiedelt.

Gegen ihren Willen, unter Strafandrohung und mit brutaler Gewaltwurden sie von «operativen Kommissionen» ins Landesinnere derdamaligen DDR gebracht, erläutert Wagner, der im Herbst 1961 beider zweiten großen Aktion «Kornblume» aus dem Rhöndorf Geisa nachIlmenau umgesiedelt wurde. Wie schon 1952 sei keinerlei Rücksicht aufKinder, Alte, Schwangere oder Schwerkranke genommen worden, sagteder mittlerweile 82-Jährige, der seit 1995 an der Spitze des BdZsteht. Im Kreis Schleiz beispielsweise wurden bis Mitte Juni 106Familien und 21 Einzelpersonen abtransportiert - in die Stadt und denLandkreis Weimar aber auch ins mecklenburgische Neustrelitz.

Widerstand gegen die Willkür gab es unter anderem in Streufdorf(Kreis Hildburghausen) und Dorndorf (Kreis Bad Salzungen). Aber auchin Sonneberg kam es zu Protesten. Etwa 500 Menschen kamen allein imSüden Thüringens durch Flucht einer Zwangsaussiedlung zuvor.

Warum sie damals ihre Wohnorte entlang der innerdeutschen Grenzeverlassen mussten, erfuhren viele Opfer erst nach 1990 beim Blick indie über sie geführten Akten des Staatssicherheitsdienstes der DDR.Als Ausweisungsgründe wurden «negative Einstellung», Tätigkeit als«Grenzgänger und Schieber» oder «organisierte gegnerische Tätigkeitund Spionage» angegeben. Vor allem Land- und Gastwirte,Gewerbetreibende und Handwerker waren betroffen - im katholischenEichsfeld auch zahlreiche CDU-Mitglieder.

Praktisch über Nacht wurden die Betroffenen in unvorstellbareseelische und materielle Not und Verzweiflung gestürzt. Ab 1990kämpften die Opfer und ihre Angehörige vor allem um Rehabilitierungund Rückkehr in die Heimatorte. Sie gründeten den BdZ, der heute 2000Mitglieder hat. Bis 1989 durfte niemand drüber sprechen, betontWagner. Betroffene schwiegen in der DDR aus Angst. Nur wenigeZwangausgesiedelte kehrten laut Wagner in den 90er Jahre in ihreHäuser zurück.

Rund 1100 zu DDR-Zeiten Zwangsausgesiedelte haben bei derLandesregierung einen Antrag auf Rehabilitation gestellt. Als solcheanerkannt wurden in Thüringen bis jetzt 789 Menschen, sagt HeikeSchrade, Referentin im Thüringer Sozialministerium. Rund 2000 Opferprofitierten von einer 1997 ausschließlich in Thüringen gegründetenStiftung, die pro Person rund 2000 Euro Entschädigung - insgesamt 4,6Millionen Euro - auszahlte.

Derzeit kämpfen die Zwangsausgesiedelten aber immer noch um eineOpferrente. «Wir sind zwar anerkannte SED-Opfer, aber Geld sollennach dem Gesetzentwurf nur die bekommen, die inhaftiert worden sind»,bringt Wagner sein Unverständnis zum Ausdruck. Der BdZ habe deshalbnoch einmal alle Mitglieder des Bundestages angeschrieben.