Zeitzeuge des Kriegsendes Zeitzeuge des Kriegsendes: Nachtlager im Wittenberger Bunker

Wittenberg - Im Sommer 1945 ist der neunjährige Joachim Kramer von Halberstadt unterwegs nach Berlin. Dort lebt die Familie eigentlich. Bereits 1943 hatte der Junge seine Heimat, die Hauptstadt, verlassen und war zu seinen Großeltern bei Halberstadt gezogen. Die Eltern blieben in Berlin. „Die letzten zwei Jahre des Dritten Reichs habe ich ohne meine Eltern verbracht“, erinnert sich Kramer, der heute in Hamburg lebt und sich anlässlich des 75. Tages der Befreiung bei der Wittenberger Redaktion meldete.
Sie hatten ihren Sohn vor den Bombenangriffen schützen wollen und ihn deswegen zu den Großeltern aufs Land geschickt. Kurz vor Kriegsende kam die Mutter nach Halberstadt, der Vater geriet in Kriegsgefangenschaft.
Monate später, der Krieg war inzwischen beendet, wollten Kramer und seine Mutter zurück in die Hauptstadt. „Direkte Zugstrecken wie man sie heute kennt, gab es damals nicht mehr. Viele Gleise waren zerstört“, sagt Joachim Kramer. Was heute in wenigen Stunden zu bewältigen ist, eine Fahrt von Halberstadt nach Berlin, dauerte also mehr als einen Tag.
Eine Nacht verbrachten die beiden Reisenden dann auch in Wittenberg. Sachsen-Anhalt war zu diesem Zeitpunkt erst wenige Wochen zuvor von der Sowjetischen Armee übernommen worden.
Der Bunker, von dem heute in Wittenberg nach einer unvollständigen Sprengung nur der bekannte Bunkerberg geblieben ist, der seit dem Reformationsjubiläum außerdem mit zwei verspiegelten, sich kreuzendenden Stegen gekrönt ist, ist auch Teil von Kramers Erinnerungen an diese Heimreise. In einem Brief an die Redaktion schildert der gebürtige Berliner und heutige Hamburger seine Erlebnisse im Nachkriegswittenberg. Im Wortlaut:
„Im Juli 1945 war ich (9 Jahre) mit meiner Mutter von dem Ort meiner Evakuierung bei meinen Großeltern bei Halberstadt mit der Bahn auf dem Weg nach unserem Zuhause in Berlin. Wir mussten unsere Reise in Wittenberg unterbrechen und wurden zur Übernachtung in den Bunker eingewiesen. Der war überfüllt mit ,Reisenden’ aller Art, und die Frauen befürchteten die ganze Nacht, dass sie vergewaltigt würden. Aber alles ging gut. Am Mittag, nach mehrstündigem Warten in brennender Sonne auf einem Bahnsteig des Bahnhofs fuhr endlich ein Zug, bestehend aus Güterwagen mit Bänken darin, ein und brachte uns in die vollkommen zerstörte Hauptstadt. Der Zug musste weit vor dem Anhalter Bahnhof auf einem Bahndamm als Endhaltestelle halten, und wir mussten die Böschung hinab klettern und uns dann bis zu unserer Heimat im Norden der Stadt durchschlagen.“ (mz)