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Wittenberg Wittenberg: Null Bock auf eine Visite beim Chef

Von DIRK SKRZYPCZAK 12.11.2010, 19:04

WITTENBERG/MZ. - Gleich zu Beginn des Tages lernt Martin Steindorf die wohl wichtigste Regel im Automobilgeschäft. Ein Verkäufer muss verkaufen können. Fünf Neuwagen bestellt ein Kunde, und der 16-jährige Coswiger sitzt mit am Tisch, als der Deal eingefädelt wird. Es folgt eine Beratung mit den Verkaufsleitern über die Gebrauchtwagen auf dem Hof; dann, in einem Moment der Ruhe, der in Wirklichkeit keiner ist, weil das Telefon klingelt oder Mitarbeiter mit ihren Anliegen an die Bürotür klopfen, wird die elektronische Post gesichtet. 60 E-Mails laufen pro Tag auf dem Computer des Geschäftsführers ein. "Es ist stressig und zuweilen etwas chaotisch", sagt Steindorf und blickt dennoch zufrieden drein. Für einen Tag beobachtet er den Betrieb im Wittenberger Autohaus Schandert aus der Chefperspektive. Über eine Aktion der Wirtschaftsjunioren hatte sich der Gymnasiast in dem Familienunternehmen beworben. Und der wahre Chef, Jochen Schandert, sagte zu.

24 Unternehmen im Boot

24 Firmen und Institutionen konnte die lokale Projektverantwortliche Kerstin Krause für den Aktionstag gewinnen, darunter Aqua Orbis in Jessen, die Wittenberger Stadtverwaltung, das Polizeirevier, die Ferropolis GmbH, den Verein Reso-Witt oder die Stiftung Luthergedenkstätten. Doch nur Martin Steindorf schrieb auch tatsächlich eine Bewerbung. Jochen Schandert mag es kaum glauben. "Als Stift hätte ich mir bei so einer Chance die Finger geleckt." Kerstin Krause ist ratlos. In allen elften Klassen der vier Gymnasien im Landkreis hatte sie persönlich geworben und dabei Unterstützung von den Schulen erhalten. Die Resonanz ist ein Desaster. "Vielleicht hat die jungen Leute die Bewerbung abgeschreckt." Doch ist ein A4-Blatt zu viel verlangt? Krause verteidigt die Praxis. Man wollte den 16-Jährigen einen Eindruck von Mitarbeiterführung und Entscheidungsprozessen vermitteln. "Uns geht es nicht um einen Tag schulfrei zum Abhängen", sagt sie.

Martin Steindorf zuckt mit der Schulter. In seiner Klasse am Lucas-Cranach-Gymnasium hätten sehr wohl einige Mitschüler Interesse gezeigt. Dabei ist es aber auch geblieben. Ende des Monats wollen sich die Teamleiter der Wirtschaftsjunioren aus den einzelnen Kreisen in Dessau zur Auswertung treffen. Dann werde man nach Gründen für das verbreitete Desinteresse suchen. Im nächsten Jahr gebe es mit Sicherheit einen neuen Anlauf, glaubt Kerstin Krause. "Ich hoffe, dass die regionalen Partner dann wieder zu uns stehen."

Der Coswiger hatte das Autohaus Schandert übrigens nicht nur ausgesucht, weil ein Großteil der männlichen Jugend den automobilen Träumen nun einmal erlegen ist. "Der Betrieb hat 90 Angestellte. Ich wollte sehen, wie die inneren Abläufe funktionieren." Und er erfährt etwas über den Führungsstil des Geschäftsführers. Jochen Schanderts Büro hat große Glasfenster zum Showraum und zur Serviceannahme. "Ich bin keiner, der sich abschottet. Ich will wissen, was bei uns passiert." Steindorf ist beeindruckt. Der direkte Kontakt zu den Mitarbeitern imponiert ihm, die lockeren Sprüche des Chefs sowieso. Ein Job im Büro, das wäre etwas, sagt der Gymnasiast. Jetzt hört Schandert genau zu.

Autohaus ringt um Nachwuchs

Längst muss auch das Autohaus um Lehrlinge kämpfen. Elf Azubis hat Schandert in diesem Jahr eingestellt, drei sind schon wieder abgesprungen. "In einem Fall haben mich Eltern angerufen und gefragt, wo ihr Kind ist. Da fehlen einem die Worte." Dabei lege man beim Sichten der Bewerbungen viel Wert auf den persönlichen Kontakt und lade die Jugendlichen etwa zum Essen ein. Hinzu komme als Argument eine Übernahmequote von 80 bis 90 Prozent. Diese Aussicht müsste doch Motivation genug sein.

Für Martin Steindorf geht der Schnuppertag als stiller Zuhörer mit einem Personalgespräch weiter. "Eventuell muss ich jemanden entlassen", sagt Schandert, und die gute Laune weicht einer ernsten Miene. Chef sein heißt eben auch, schwere Entscheidungen treffen zu müssen.