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Ostern in der Lutherstadt Welche Passion zur Sternstunde in der Stadtkirche wird

Die Wittenberger Kantorei und das Ensemble „musica lipa“ führen in der Stadtkirche „Brockes Passion“ von Händel auf. Was an dieser Einstudierung auffällt.

Von Michael Stolle 02.04.2024, 12:24
Viele Plätze blieben frei bei „Brockes Passion“ in der Stadtkirche.
Viele Plätze blieben frei bei „Brockes Passion“ in der Stadtkirche. (Foto: Sascha Graf)

Wittenberg/MZ. - In der Wittenberger Stadtkirche erklang am Karfreitag die „Brockes Passion“ von Georg Friedrich Händel: Der Hamburger Kaufmannssohn Barthold Hinrich Brockes (1680-1747) studierte 1700-1702 Jura in Halle, war also kurzzeitig Mitbewohner des fünf Jahre jüngeren Georg Friedrich Händel in der Saalestadt. Nach Reisen durch halb Europa lebte er ab 1704 in Hamburg, er betätigte sich als Ratsherr, Diplomat, Stadtrichter und Kunstsammler. 1715 gründete Brockes die „Teutschübende Gesellschaft“ zur Förderung der deutschen Sprache und Literatur. Sein eigenes literarisches Hauptwerk ist die Gedichtsammlung „Irdisches Vergnügen in Gott“, in der die Natur in ihrer Schönheit und Nützlichkeit als Mittler zwischen Mensch und Gott reflektiert wird.

Libretto wird vielfach vertont

1712 veröffentlichte Brockes den Text des Passions-Oratoriums „Der für die Sünde der Welt gemarterte und sterbende Jesus“. Dieses Libretto machte Brockes berühmt. Es wurde von den führenden Komponisten der Zeit vertont, so von Reinhard Keiser (1712), Georg Friedrich Händel und Georg Philipp Telemann (beide 1716), Johann Mattheson (1718), Johann Friedrich Fasch (1717/19) und Gottfried Heinrich Stölzel (1725). Johann Sebastian Bach verwendete Teiles des Brockes-Textes in seiner Johannes-Passion (1724) und fertigte in den 1740er Jahren eine eigenhändige Kopie der Händel-Partitur an.

Die Aufführung der Wittenberger Kantorei und des Ensembles „music lipa“ wurde von Kantor Christoph Hagemann vom Cembalo geleitet.
Die Aufführung der Wittenberger Kantorei und des Ensembles „music lipa“ wurde von Kantor Christoph Hagemann vom Cembalo geleitet.
(Foto: Sascha Graf)

Georg Friedrich Händels „Brockes-Passion“ entstand wahrscheinlich 1716 in London und wurde am 3. April 1719 erstmals öffentlich im Hamburger Dom unter der Leitung von Johann Mattheson aufgeführt. Dabei wirkten Sänger der Hamburger Oper am Gänsemarkt mit. Es ist die einzige geistliche Komposition Händels auf einen deutschen Text. Die Handlung basiert auf dem Passionsgeschehen in den vier Evangelien (besonders dem Matthäus-Evangelium), die aber nicht wörtlich zitiert werden, sondern in Versform nachgedichtet sind. Es werden behandelt: das Abendmahl, der Gang zum Ölberg, das Gebet in Gethsemane, die Gefangennahme von Jesus, das Verhör vor dem Hohen Rat, die Verleugnung durch Petrus, die Auslieferung und Verhandlung vor Pilatus, die Verspottung, die Kreuzigung und der Tod Jesu. Der Schlusschor ist ein trostreiches Bekenntnis zu Christus, der die Welt durch sein Leiden erlöst hat. Das Werk hat 106 Abschnitte, viele mit einem opernhaften Charakter haben.

Die Aufführung am Karfreitag in der Wittenberger Stadtkirche hatte in Christoph Hagemann einen konsequenten und stilsicheren musikalischen Leiter. Er leitete das Ensemble „musica lipa“ und die Wittenberger Kantorei vom Cembalo aus. Es entstand eine homogene Aufführung von höchster Klangqualität. Hier wurden die stilistischen Erkenntnisse der „historisch informierten“ Aufführungspraxis Realität: schlanker Klang des Chores, vibratoloses und weiches Spiel der Streicher, „sprechende“ Artikulation, dramatischer Impetus (Antrieb).

Wie die Solisten wirken

Die Sängerinnen Polly Ott (Tochter Zion) und Theresia Taube (Gläubige Seele) reflektierten das Passionsgeschehen gut mit ihren so verschiedenen lyrischen Stimmen. Dem dramatischen Jesus von Samuel Berlad (Bass) merkte man die Theatererfahrung an. Der Evangelist von Gerald Beatty (Tenor) bewältigte die große Aufgabe der Erzählung des Passionsgeschehens gut, wenn auch mit wenig Textverständlichkeit. Dem Judas von David Erler (Countertenor) konnte man den Verräter glaubhaft abnehmen. Eine Entdeckung war der Petrus von Gregor Reinhold (Tenor): wohlklingend, zupackend, durchdacht gestaltend, mit virtuosen Koloraturen. Anrührend wirkte das Duett zwischen Jesus und seiner Mutter Maria (Mechthild Andersch). Auch die kleinen Rollen von Caiphas, Pilatus, Hauptmann, Aposteln und Mägden wurden von Chormitgliedern textdeutlich gesungen.

Diese Passion von Händel war eine wirkliche Sternstunde der Wittenberger Kirchenmusik. Großes Kompliment für diese Einstudierung, Kantor Hagemann!