Taxigewerbe in Wittenberg Taxigewerbe in Wittenberg: Branche fast auf Null

Wittenberg - „Katastrophal!“, schnaubt Jürgen Selig und liest der MZ ungefragt aus seinem Kassenbuch vor. 23. März: Keine Einnahmen, 24. März: 7,50 Euro, 25. März: 15,30 Euro. Und selbst diese beiden Fahrten am Dienstag und Mittwoch dieser Woche waren nur einem Zufall zu verdanken - er bekam sie von einem Kollegen, berichtet Selig, weil es Terminüberschneidungen gegeben hatte.
Selig ist selbstständiger Taxifahrer in Wittenberg. Mit seinen 70 Jahren könnte er längst im Ruhestand sein, doch die Rente, klagt er, sie reiche eben nicht. Ist das Chauffeursgeschäft hierzulande schon zu normalen Zeiten keine Goldgrube, nimmt die Situation jetzt bedrohliche Züge an: „Ich habe nicht vor Corona Angst“, sagt er, „ich habe Angst um meine Existenz.“
Denn während der Wagen mit Selig darin derzeit „neun Stunden am Tag steht“, laufen die Kosten ja weiter. Allein die Krankenversicherung schlage mit 500 Euro zu Buche. „Den Monat könnte ich noch durchhalten“, sagt er mit Blick auf seine dünnen Rücklagen, wenn sich bis dahin nichts ändert, müsse er aber „abmelden“. Dass er in den Genuss staatlicher Zuschüsse kommen könnte, bezweifelt er.
Üblicherweise steht Selig am Hauptbahnhof, wer Zug fährt, braucht ja vielfach auch ein Taxi. Fährt bloß keiner Zug im Moment, Bus auch nicht. „Die Leute haben Angst.“ Dabei sei er mit Desinfektionsmittel gut ausgerüstet: Nach jedem Kunden wird die Klinke abgewischt, dito die Hände gereinigt, wenn er selbst etwa einen Koffer angefasst hat. Nur dass es derzeit eben gar nichts zu desinfizieren gibt.
Mitarbeiter zu Hause
Den Großen der Branche geht es nicht anders. In ihrem Unternehmen in der Mauerstraße beschäftigt Marion Fuhrmann üblicherweise neun Mitarbeiter. Sie habe sie alle nach Hause geschickt und für sie Kurzarbeitergeld beantragt, berichtete sie der MZ am Donnerstag, lediglich ein Fahrer halte sich in Bereitschaft - für den Fall, dass wider Erwarten doch mal jemand einsteigen möchte, und zur Absicherung der so genannten Vertragsfahrten, etwa mit der Deutschen Bahn, deren Mitarbeiter man zur Arbeit oder nach Hause chauffiere. Wie auf Bestellung klingelt während des Interviews das Telefon: 14.05 Uhr soll ein Bahnmitarbeiter abgeholt werden. Dann ist es wieder lange Zeit sehr ruhig in der Funktaxizentrale an der Mauerstraße.
Angesichts Coronas - „das C, das keiner mehr hören will“ - zeigt sich Fuhrmann allerdings auch kämpferisch. „Wir sind gewappnet“, sagt sie und verweist auf vorrätige Masken und Desinfektionsmittel. Sicherheit und Gesundheit ihrer Mitarbeiter hätten für sie jetzt Priorität, betont die Unternehmerin. Wie Selig zeigt auch sie sich noch zurückhaltend angesichts der staatlich zugesagten Finanzhilfen. Es gebe ja „noch nicht mal Anträge“ dafür und keiner wisse, wie lange die Krise dauert.
Diese Krise, das unerwünschte „C“, das man „nicht riechen, nicht fühlen, nicht sehen“ kann, wie Fuhrmann diese „unwirkliche“ Situation beschreibt. Nie zuvor in ihrer mittlerweile 26-jährigen Geschäftstätigkeit habe sie auch nur annähernd so etwas erlebt.
Keine Alternativen
Angesichts dessen, dass gegenwärtig „nur die fahren, die unbedingt müssen“, die alte Dame ins Krankenhaus etwa oder zur Apotheke, könnte die Situation je nach Dauer für ihre Branche „existenzbedrohend“ werden, urteilt die Taxi-Unternehmerin. Alternative Einnahme-Möglichkeiten in der Krisenzeit, wie sie etwa in Großstädten eruiert werden, sieht sie in der vergleichsweise kleinen Stadt nicht. „Theoretisch ist das möglich“, sagt sie etwa zur Übernahme von Lieferfahrten, in der Praxis würde so etwas in Wittenberg aber sicher kaum nachgefragt: Hier helfe man sich untereinander. Das gelte übrigens auch innerhalb der Branche.
Gesund bleiben sei das Gebot der Stunde, sagt Marion Fuhrmann. „Der Rest findet sich.“ (mz)
