Straßensanierung in Gräfenhainichen Straßensanierung in Gräfenhainichen: Anwohner sollen rückwirkend Beiträge zahlen

Gräfenhainichen - MZ-Leser Herbert Brandt ist sich da ganz sicher: Das wird in Gräfenhainichen der Aufreger des Jahres. Für Straßen, die Anfang der 1990er Jahre, also unmittelbar nach der Wende, saniert wurden, sollen die Grundstücksbesitzer rückwirkend zur Kasse gebeten werden. „Das glaubt mir keiner!“, sagt Brandt, der schon mal ein paar künftige Beitragszahler vorwarnen wollte.
Brandt hat als Besucher der Ratssitzung die Ankündigung live miterlebt. „Wir sind verpflichtet, bis zum 31. Dezember 2015 rückwirkend Straßenausbaubeiträge zu erheben“, erklärt Bürgermeister Harry Rußbült (Linke) und verweist auf eine Änderung des Kommunalabgabegesetzes. Der Verwaltungschef hält das „nicht für sinnvoll“, aber „Gesetz ist Gesetz“. Ins Detail geht der Verwaltungschef nicht. Die Räte nehmen die Info kommentarlos zur Kenntnis.
Entscheidung im Mai geplant
Auch auf MZ-Nachfrage sagt Rußbült nicht viel mehr. Das Bauamt werde für die Mai-Sitzung eine Vorlage erarbeiten. Amtsleiter Thomas Ludwig kann kaum noch die Contenance bewahren. „Das ist die größte Sch...“, formuliert er ungewöhnlich deutlich. Es gebe Fragen über Fragen. Beispiel Südstraße in Gräfenhainichen: „Da haben wir 100 Prozent Fördermittel erhalten. Ich habe noch nicht mal mehr die Bauunterlagen“, sagt Ludwig, der davon ausgeht, dass in einem solchen Fall die Kosten geschätzt werden. Aber aus Stadtsicht gab es die Straße zum Nulltarif. Wie können null Kosten umgelegt werden? Das Ergebnis ist trotzdem klar. „Die Stadt macht plus“, so Ludwig, der aber nicht sagt, dass das bei einem Etatminus 2015 von 2,6 Millionen Euro auch nicht zu verachten wäre.
Die Angergasse in Wörlitz wurde 1993/1994 ausgebaut. 2013 erhielten die Grundstücksbesitzer rückwirkende Bescheide zwischen 4.000 Euro und mehr als 30.000 Euro. 35 Einwohner schalteten das Verwaltungsgericht ein. Der Rechtsstreit endete aber in einem vom Gericht angeregten Vergleich. Der Prozess, sagte zuvor der Präsident des Verwaltungsgerichtes, Ulrich Meyer-Bockenkamp, könne für beide Seiten mit einem klaren Sieg enden, aber auch mit einer kompletten Niederlage.
Betroffen sind in Gräfenhainichen, das bestätigt Ludwig der MZ, die Robert-, die Damaschke - und die Mittelstraße sowie die Lindenallee. Nicht betroffen sind dagegen die Straßen in Sanierungsgebieten in Gräfenhainichen (zum Beispiel Grüne Gasse) und in Zschornewitz. Hier seien Ablösebeiträge gezahlt worden. Aufatmen kann auch das Neubaugebiet Schköna (Birkenweg). Hier mussten Erschließungskosten berappt werden. Aber alle Einzelheiten kann Ludwig, der sich heute von einem Seminar Antworten erwartet, noch nicht nennen.
Es wird scharfen Gegenwind geben - und zwar nicht nur von den Bescheidempfängern. „Ich bin voll dagegen“, sagt Wolfgang Zemelka (Linke). Aber ist Jüdenberg davon überhaupt betroffen? „Jein“, sagt der Ortsbürgermeister. Er wisse zwar, dass für die Sanierung der Dorfstraße 1993/1994 ein Kredit von zwei Millionen D-Mark aufgenommen wurde.
Aber das sei doch wohl Geschichte. „Ich habe in meinem Büro keine einzige Rechnung mehr“, so das Gemeindeoberhaupt. Darüber hinaus habe Jüdenberg im Gegensatz zu Gräfenhainichen auf wiederkehrende Straßenausbaubeiträge gesetzt, das heißt, die Grundstücksbesitzer wurden für alle Straßensanierungen zur Kasse gebeten. Das ist sozusagen das Solidarprinzip. In Gräfenhainichen wurden nur von den Anliegern Beiträge - und meistens gleich mehrere tausend Euro - erhoben.
Amtschef erwartet viel Ärger
Aber auch das Jüdenberger Modell muss nicht zwangsläufig vor Nachzahlungen schützen. „Die gezahlten wiederkehrenden Beiträge können angerechnet werden“, sagt Ludwig, ohne damit konkret Jüdenberg zu meinen. Generell gelten, so Ludwig, Gräfenhainichens Straßenausbaubeiträge als zu niedrig. „Auf uns kommt jede Menge Arbeit und Ärger zu“, sagt der Amtsleiter.
Tatsächlich hat die MZ bei einer Blitzumfrage parteiübergreifend keinen Befürworter gefunden. „Ich bin dagegen“, so die Zschornewitzer Ortsbürgermeisterin Martina Schön (SPD). Ihr Amtskollege in Möhlau Günter Lönnig (Wählergemeinschaft) sieht es sehr ähnlich. Bei ihm könne das Land gern anrufen. Er habe ein paar Tipps, wo die Magdeburger sparen können. Unter dessen fordert CDU-Fraktionschefin Petra Kuhnert „eine Sondersitzung“. „Aber bei einem Nein im Stadtrat“, so Ludwig vorab, „muss der Bürgermeister sofort in Widerspruch gehen.“
Der Stadtrat handele gesetzeswidrig. Ludwig glaubt nicht, dass sich so die Volksvertreter übers Jahr retten können. Am 1. Januar 2016 tritt die Verjährung ein. „Stadträte, die ihren Bürgern etwas Gutes tun wollen, müssen mit Regressforderungen der Obrigkeit rechnen“, sagt Holger Becker.
Der Pressesprecher des Verbandes der Deutschen Grundstücksnutzer hat trotzdem einen Tipp für die Volksvertreter parat: „Die Straßenausbeiträge einfach moderat ausfallen lassen.“ Dies sei leicht möglich weil keine Rechnungen, die seien lediglich zehn Jahre aufzubewahren, mehr existieren. „Die Erhebung rückwirkender Beiträge aber ist sehr zweifelhaft“, so Becker.
Das sehen Juristen keinen Deut anders. „Wir bezweifeln, wie viele Verfassungsexperten auch, dass diese rückwirkende Gebührenerhebung rechtlich überhaupt zulässig ist“, sagt Sascha Giller von den PWB-Rechtsanwälten in Jena. Die Thüringer sind schon weiter als Sachsen-Anhalt. Die Grundstücksbesitzer halten die Bescheide - in der Regel mehrere tausend Euro hoch - bereits in den Händen.
Widerspruch zum Discountpreis
Die Jenaer Kanzlei bietet eine Begleitung des Widerspruchsverfahren zum Discountpreis von 59,90 Euro an. Es gibt aber auch Juristen, die die Regelung für gerichtsfest halten. „Die Neufassung des Kommunalabgabengesetzes ist jetzt“, schreibt ein Anwalt aus Halle an die Stadt Gräfenhainichen, „dass der Anspruch nicht mehr mit der gültigen Satzung entsteht, sondern auch ohne eine Satzung oder ohne eine gültige Satzung noch bis zum 31. Dezember geltend gemacht werden kann“. Das betreffe Maßnahmen „älter als zehn Jahre“. (mz)