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Musikalisches Experiment in der Stadtkirche Musikalisches Experiment in der Stadtkirche: Choräle und Arien mit Klavierbearbeitungen in Wittenberg

Von Karl Friedrich Ulrichs 17.11.2015, 11:53
Ein Denkmal an den Reformator Martin Luther steht vor dem Turm der Stadtkirche in Wittenberg
Ein Denkmal an den Reformator Martin Luther steht vor dem Turm der Stadtkirche in Wittenberg dpa Lizenz

Wittenberg - Am kommenden Sonntag wird in der Stadtkirche Wittenberg ein musikalisches Experiment aufgeführt: Die Leipziger Pianistin Anna Christiane Neumann wird Choräle und Arien aus Johann Sebastian Bachs Kantaten in Klavierbearbeitungen darbieten.

Das Konzert „Bach ohne Worte“ am kommenden Ewigkeitssonntag, dem 22. November, in der Stadtkirche von Wittenberg beginnt um 15 Uhr. Die Moderation des Nachmittags übernimmt Stadtkirchenpfarrer Johannes Block. Es musizieren die Pianistinnen Anna Christiane Neumann, Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, und Anja Kleinmichel. Erklingen werden Transkriptionen nach bekannten Werken von Johann Sebastian Bach für Klavier solo und Klavier vierhändig, die auch auf der gerade erschienenen CD „Bach Without Words“ zu hören sind. Von einem „Klangerlebnis besonderer Güte, vertraute Stücke von Bach auf dem Klavier zu hören ohne die üblicherweise unterlegten Texte“, ist in der Konzertankündigung die Rede.Der Eintritt ist frei, die Spenden am Ausgang kommen der Sanierung des Flügels im Katharinensaal der Stadtkirchengemeinde zugute.

Der Inbegriff wortgebundener Musik rein instrumental gespielt, gottesdienstliche Musik durch Transkription den Sängern, Bläsern, Streichern genommen und ganz dem bürgerlichen Klavier anvertraut, von der Kirche in den Konzertsaal oder ins Wohnzimmer versetzt - was geschieht mit der um die Worte gebrachten Musik?

Kein Verrat am Original

Auf Anregung von Johannes Block, Pfarrer der Stadtkirchengemeinde und Dozent an der Theologischen Fakultät sowie der Hochschule für Musik und Theater Leipzig, hat Anna Christiane Neumann „Bach without Words“ beim Label „Genuin classics“ eingespielt. In seiner umfangreichen musikwissenschaftlich-theologischen Einführung im CD-Booklet legt Block dar, dass eine Bearbeitung keineswegs ein Verrat am Original ist, dass schon der Vorgang der Komposition insbesondere bei Bach transkribierende Aspekte aufweist. Klavierbearbeitungen bringen Bachs komplexe Musik kleiner und klarer zu Gehör. Dazu ermöglichen Noten statt Buchstaben, Töne statt Wörter, Klavier statt menschlicher Stimme ein offeneres, interpretationsfähigeres, auch direkteres und emotionaleres Musikerlebnis. Musiker und Hörer sind hier ganz auf den Klang fokussiert. Block spricht darum von einem „Moment reformatorischer Klang-Theologie“, die Musik als eigene Sprache versteht.

Worte reichen nicht

Derlei Transkriptionen sind das berechtigte Eingeständnis, dass Worte nicht reichen, Menschen nicht mehr erreichen, veralten, wie es viele Zeitgenossen bei den barocken Bachtexten empfinden. Da lichtet sich der „dicke Glaubensqualm“, der schon vor 200 Jahren an Bachs Vokalwerken beklagt wurde. Und in einer von Wörtern überfüllten Welt mag ein musikalisches Textfasten wohltun und neue Zugänge ermöglichen - auch bei Menschen, denen der Glaube schwer fällt oder unmöglich scheint.

Wie ein schlichter Choral tatsächlich in genuine Klaviermusik überführt wird, kann man wohl am besten bei „Liebster Jesu, wir sind hier“ in der schlichten Bearbeitung von Albert Riemenschneider hören wie auch beim legendären Beethoven-Pianisten und Kantorensohn Wilhelm Kempff. Bewegend sein „Es ist gewisslich an der Zeit“ - passend zum Ende des Kirchenjahres und zur aktuell verdunkelten Weltlage: Schatten und Strahlen, Schmerz und Vertrauen sind da zu hören, die glaubensfrohen Girlanden des Choralvorspiels übertönen unter den flinken Fingern von Anna Christiane Neumann allerdings den Sehnsuchtschoral.

Berühmte Klaviertranskription

Ferruccio Busoni lässt beim bearbeiteten Adventschoralvorspiel „Nun komm, der Heiden Heiland“ mit Bach die linke Hand schreitend Jesu Kommen erklingen, während die rechte Hand die Freude des Glaubens darüber spielt - von der Pianistin sehr transparent gestaltet. György Kurtágs Version des feinen kontrapunktischen Choralvorspiels zu „Allein Gott in der Höh’ sei Ehr’“ lässt sie herrlich glitzern.

Die wohl berühmteste Klaviertranskription ist Myra Hess’ Bearbeitung von „Jesus bleibet meine Freude“. Ausgerechnet diesen geistlichen Ohrwurm bietet Neumann in eigener Fassung. Das muss man sich erst einmal trauen! Neumanns Bearbeitung und Interpretation folgt dabei ganz den prononcierten Triolen, ist variantenreich an Verzierung und Dynamik, kommt aber an das Mysterium von Myra Hess nicht ganz heran, das in den delikaten Mittelstimmen liegt. Überhaupt klingt das Neumannsche Spiel etwas vorsichtig, nämlich zurückgenommen, ohne dadurch durchweg auch einen zauberischen Mehrwert zu erzielen. Ein veritables musikalisches und geistliches Ereignis also! (mz)