Messerstecherei in Wittenberg? Messerstecherei in Wittenberg?: Ein Opfer, kein Täter - und jede Menge offene Fragen
Wittenberg - Läuft in Wittenberg ein messerstechender Irrer frei herum? Diesen Eindruck könnte bekommen, wer am Montagabend in Wittenberg Facebook aufruft. Ein Foto macht dort die Runde. Es zeigt den unteren Rücken einer Person, eine etwa zwölf Zentimeter lange Wunde ist darauf zu erkennen, die offenbar vor kurzem fachmännisch genäht wurde.
Der Gedanke an eine Gewaltstraftat liegt nahe: gefährliche Körperverletzung? Bei der Größe der Wunde vielleicht sogar versuchter Totschlag? Da müsste doch Himmel und Hölle in Bewegung sein, um den Übeltäter zu fassen? Ermittelt denn die Polizei? Jein. Nicht so richtig. Denn das vermeintliche Opfer einer Straftat ging noch während der Erstattung der Anzeige flüchten.
Merkwürdig ist auch, was der mutmaßliche Urheber des Fotos dazu bei Facebook schreibt. Denn Stunden bevor Jim J. zum Polizeirevier geht, postet er das Foto der langen genähten Wunde auf seinem (?) Rücken und warnt seine Mitbürger vor den „Drecks wittenberger kanacken“.
Die „Leute aus Wittenberg“ sollten aufpassen, was sie abends machen, sonst würden sie „abgestochen“ wie er selbst. Der Aufforderung, den Beitrag zu teilen, folgen weit über 100 Facebook-Nutzer.
Das Einstellen des Fotos und die Anzeigenerstattung bei der Polizei geschehen am Montagnachmittag. Die Tat selbst soll in der Nacht zum Sonnabend passiert sein. Vor der Hauptpost in Wittenberg.
Als die Mitteldeutsche Zeitung Montagabend gegen 20 Uhr mit Jim J. ins Gespräch kommt, zeigt er sich beeindruckt, von dem medialen Interesse, welches seine Veröffentlichung erzielt hat. „Das geht ganz schön durch die Decke. 163x geteilt“, protzt er.
Doch was soll eigentlich passiert sein?
Von drei Leuten ist bei J. die Rede. Zwei seien auf der anderen Straßenseite gegangen, während ein Dritter ohne Vorwarnung von hinten ein Messer in den Rücken des Opfers gejagt habe. „Er sah für mich wie ein Ausländer aus, also wie ein Türke oder sowas“, beschreibt er den Angreifer am Montagabend gegenüber der MZ. „Aber mehr sage ich nicht“, erklärt J. mehrfach.
Die Personenbeschreibung konkretisiert er dann aber doch: „Körperbau normal, Haare kurz, vielleicht von den anderen lang. Ich weiß nicht. Mehr sage ich wirklich nicht.“
Nach dem Angriff geht J. nach Hause. Dort ruft er den Rettungsdienst an, der ihn in die Notaufnahme des Paul-Gerhardt-Stifts bringt. Nach rund einer Stunde ist die Behandlung abgeschlossen. J. verlässt das Krankenhaus. Da ist es Samstag 1 Uhr. Bis Montagnachmittag herrscht Schweigen.
Am Montag dann stürzen sich die Kommentarschreiber in den sozialen Medien dankbar auf das Foto.
Unter ihnen sind auch einige, die sich offenbar ein Szenario des messerstechenden „Kanacken“ regelrecht wünschen – und für deren Zwecke eine Aufklärung des Falles wahrscheinlich sogar eher unschön wäre: Thomas Lindemann, Mitglied im Landesvorstand der NPD, gehört zu den ersten Kommentarschreibern: „Hallo Jim, mit der Lügen- und Hetzpresse von der Mitteldeutschen Zeitung würde ich Dir nicht empfehlen zu telefonieren. Diese Refugee-Welcome-Schreiber sind mit Schuld an dem, was momentan passiert im Land bzw. mittlerweile bei einem selbst. Mit journalistischer Arbeit hat das nichts zu tun. Anzeige bei der Polizei machen, wenn nicht schon geschehen. Und erst einmal gute Besserung an dieser Stelle. Auch im Namen des NPD Kreisverband Wittenberg!“, schreibt er öffentlich unter dem Post.
Viele andere kommentieren unter dem Bild. Einige sind skeptisch, andere äußern offen fremdenfeindliche Kommentare.
Auf die Idee mit der Anzeige bei der Polizei ist Jim J. da aber scheinbar schon selbst gekommen. Als Thomas Lindemann kommentiert, steht J. gerade im Wittenberger Revier während der Erstattung der Anzeige auf und verlässt die Polizeiwache.
Aber wieso?
Die Polizei bleibt ratlos zurück. Nicht nur die Verletzungen des Anzeigenerstatters und deren medizinische Versorgung sind nicht geklärt, auch über einen möglichen Tatverdächtigen können die Beamten auf Nachfrage der Mitteldeutschen Zeitung keine Aussagen treffen. „Es fehlen uns viele weitere Angaben“, räumt Polizeisprecher Ralf Moritz ein. Dadurch stünden die Ermittlungen noch am Anfang.
Nicht einmal die Verletzung selbst konnte von den Polizisten dokumentiert werden. Und Auskunft beim behandelnden Arzt gibt es auch nur, wenn dieser von der ärztlichen Schweigepflicht gegenüber Polizei und Staatsanwaltschaft entbunden wurde. Auch das ist nicht passiert. Dass ein vermeintliches Opfer einer Straftat unkooperativ bei der Aufklärung einer mutmaßlichen Straftat ist, sei für die Polizei auch nicht alltäglich, sagt Polizeisprecher Ralf Moritz.
„Ich werde mir einen Anwalt nehmen und das mit ihm besprechen. Ich fand, der Polizist hat mich auch nicht wirklich ernst genommen“, erhebt J. indes Vorwürfe gegen das Wittenberger Revier. Der Beamte sei desinteressiert gewesen. Nun soll ein neues Gespräch zwischen Opfer und Polizei Antworten liefern. Für Mittwochvormittag ist ein Termin vereinbart.
Dabei wird es auch um die Frage gehen, warum J. den Ärzten im Krankenhaus ein Märchen aufgetischt hat. Das gibt er auch gegenüber der Mitteldeutschen Zeitung zu: „Da habe ich gesagt, dass was anderes passiert ist, um abzulenken vom eigenen Geschehen“, gibt er sich einsilbig. Warum er das getan habe?
„Ich habe einen Verdacht, wer das gewesen sein könnte. Ich musste erst überredet werden, zur Polizei zu gehen“, erklärt er. Er habe Angst, dass die Tat geplant gewesen sein könnte. Wer etwas gegen ihn haben könne? „Das weiß ich leider auch nicht“, erklärt er.
Dafür kann er aber am Dienstag den vermeintlichen Täter besser beschreiben: „Ich glaube, er war syrischer Herkunft, so wie es aussah. Kein Bart, braune Schuhe, blaue Jeans, braune Jacke mit Fell an der Kapuze“, präzisiert er seinen Verdacht von Montagabend. Die Herkunft macht J. an äußeren Merkmalen fest. Gesprochen habe bei der ganzen Tat nämlich keiner.
Dabei könnte die Aufklärung des Falles doch ziemlich nahe liegen: „Ich habe da einen Verdacht. Aber mit dieser Person habe ich schon länger keinen Kontakt mehr. Namen sage ich nicht. Auf jeden Fall war es ein Syrer oder sowas in die Richtung, also kein Deutscher“, erklärt er gegenüber der MZ. Ob er von der Polizei Geld gefordert habe, damit er den Namen verrate? „Darüber möchte ich nix sagen. Ich bin halt mega verwirrt zur Zeit.“
In der Nacht zu Dienstag hat J. seinen Facebook-Post übrigens schon wieder gelöscht. Warum? „Weil irgendwelche Leute denken, dass das nicht meine Verletzung ist und ich das geklaut hätte, beziehungsweise meinten welche, ich mache das nur für Likes oder sowas.“ - Es bleiben viele Fragen offen. Die MZ bleibt dran. (mz)