Mein 2017 Mein 2017: Der Stadtführer, der rückwärts läuft

Wittenberg - Oliver Friedrich ist ein Hüne - man kann ihn sich gut als Türsteher vorstellen und wie er missliebige Gäste abweist: mühelos, allein durch seine imposante Erscheinung. Tatsächlich hat Friedrich in Wittenberg, seiner Heimatstadt, einmal den Einlass in Diskotheken, heute würde man wohl Clubs sagen, kontrolliert.
Aber wer will das schon bis ans Ende seines Erwerbslebens machen? Und erfüllt es? Friedrich jedenfalls holte sein Abitur nach, er hat „zum Glauben gefunden“ und Geschichte sowie Theologie studiert. Als Religionspädagoge unterrichtet er inzwischen an der Gesamtschule im Gartenreich Oranienbaum-Wörlitz; in Wittenberg aber kennen ihn viele als Stadtführer.
In dieser Funktion fällt er durch eine ungewöhnliche Eigenart auf: Er geht rückwärts. In der Touristinformation heißt es, der Herr Friedrich kenne vermutlich jede Stuhlposition der verschiedenen Straßen-Cafés. Andererseits, so die Leiterin der Touristinfo, Kristin Ruske, „übersieht man einen Zwei-Meter-Mann ja auch nicht, wenn er vorbei geht“.
„Universell“ einsetzbar
Vorbei. Das ist jetzt bald dieses besondere Reformationsjubiläum. „Ich habe mich extra für 2017 selbstständig gemacht“, sagt Friedrich. Dadurch sei er „universell“ einsetzbar für viele Auftraggeber - von GLC bis zu Viking Tours. Dafür musste er zunächst mal ein bisschen Zeit investieren und sich weiterbilden, etwa um durch Sonderausstellungen führen zu dürfen.
Wo man als Tourist (oder interessierter Einheimischer) noch mit ihm unterwegs sein kann? Natürlich auf den klassischen Rundgängen, klar, aber auch im Asisi-Panorama sowie u. a. in Kirchen. Was das Arbeitsaufkommen betrifft, so sei das noch jetzt in diesem Oktober wie sonst nur im Hochsommer.
Soll heißen, Friedrich, der 2017 „nebenbei“ noch seine Magisterarbeit geschrieben hat, hat seit März, wenn er im Einsatz war, im Schnitt drei Führungen pro Tag mit etwa 20 bis 30 Personen.
Weniger kann mehr sein
Mehreren Tausend Menschen - viele kamen aus Nord- und Südamerika, aus Afrika, Südkorea oder Skandinavien - hat er also schon in diesem Jahr in deutscher und englischer Sprache Wittenberg und die Hotspots der Reformation nahe gebracht. Dass ihm dabei mehr als einmal sein Theologiestudium zugute kam, erklärt er.
Er betont aber auch, dass er die Geschichte der Stadt und jener Ereignisse, die vor 500 Jahren hier ihren Ausgang nahmen, am besten vermittelt, indem er beispielsweise Bezüge zur Gegenwart herstellt.
Es sei auch wenig hilfreich, mit Jahreszahlen oder zu vielen Fakten um sich zu werfen, wenn man bedenke, dass sich mehr als drei oder vier (Jahreszahlen) in der Kürze der Zeit einer Führung nur die Wenigsten merken. Besser funktionierte es also über Alltagsgeschichte. Und es gelte der Spruch: „Manchmal ist weniger mehr.“
Apropos mehr: „Über die Auftragsdichte kann ich mich persönlich nicht beschweren“, sagt Friedrich und dass 2017 „ein tolles Jahr war“. Er schwärmt von „einem besonderen Spirit in der Stadt“. Das „große Interesse an Wittenberg“ habe ihn stolz gemacht, „stolz, dass man Teil davon ist, ein kleines Rädchen im großen Getriebe“.
Und doch sei es leider so gewesen, „dass vieles nicht angenommen wurde“, meint Friedrich unter Hinweis auf eine gut besuchte City und mitunter leere Wallanlagen. Leerer wird es nach dem Grand Finale am 31. Oktober gewiss wieder in Wittenberg.
Das dürfte manchem, insbesondere den Anrainern etwa des zentralen Marktplatzes, gar nicht so unrecht sein. Und selbst ein Enthusiast und Arbeitstier wie Oliver Friedrich gesteht: „Ich brauche jetzt erst einmal eine Lutherpause.“ Für 2018 plane er im Übrigen (auch aus familiären und beruflichen Gründen), Führungen nur noch an den Wochenenden zu machen.
Alles, nur kein Plattenspieler
Rückwärts gehen wird er vermutlich weiter, das ist nämlich kein Spleen, sondern wohl überlegt. Er wolle „nicht vorne weg reden“, auch baue er so leichter Kontakt zu den Leuten auf. Zudem nehme er eher wahr, ob da einer langsamer als der Rest der Gruppe läuft und wie interessiert die überhaupt ist.
Zur Sicherheit werde er sich auch fürderhin ab und zu umdrehen. Bleiben dürfte auch Oliver Friedrichs Überzeugung, dass „man sich als Stadtführer selbst motivieren muss“. Warum? Um nicht zum „Schallplattenspieler“ zu werden. Davon ist er bestimmt weit entfernt. (mz)