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Krankenhaus Wittenberg Krankenhaus Wittenberg: Was passierte 1933 mit dem längjährigen Chefarzt Paul Bosse?

Von Irina Steinmann 06.02.2017, 05:00
Werner Weinholt ist Stiftungsvorstand und Theologischer Direktor des Gesamtunternehmens Paul Gerhardt Diakonie.
Werner Weinholt ist Stiftungsvorstand und Theologischer Direktor des Gesamtunternehmens Paul Gerhardt Diakonie. Thomas Klitzsch

Wittenberg - Das Paul-Gerhardt-Stift stellt sich seiner Geschichte. In Kürze erscheint eine Publikation, die die Entwicklung des evangelischen Wittenberger Krankenhauses in den Jahren 1918 bis 1945 in den Fokus nimmt.

Für das Stift, als Einrichtung bekanntlich ungleich älter, sind dies entscheidende Jahre. Es sind auch Jahre, die bis heute hie und da für Unfrieden sorgen und das Bonmot von der Vergangenheit, die nicht vergangen ist, einmal mehr bestätigen: Im Zentrum des etwa 100 Seiten starken Buches steht das Schicksal des langjährigen Chefarztes Paul Bosse, der das Krankenhaus nach dem Ersten Weltkrieg erst zu einem solchen im modernen Sinn gemacht hatte - und vor allem als Begründer der Bosse-Klinik bis heute einen festen positiven Platz im Gedächtnis der Stadtgesellschaft hat.

Paul Bosse verliert 1933 Stelle am Stift

Doch Bosse, Gynäkologe und Chirurg, geriet schon bald nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1933 in den Strudel der damit verbundenen zielgerichteten Umwälzungen in sämtlichen gesellschaftlichen Bereichen - und verlor nach längerem Hin und Her zum 31. Dezember 1935 endgültig seine Stelle im Stift. Dieser Rauswurf - und vor allem: wie es dazu kam - nimmt in der aktuellen Publikation zur Stiftsgeschichte den mit Abstand größten Raum ein.

Denn dies ist genau der Punkt, den die Paul-Gerhardt-Stiftung mit dem bereits vor einigen Jahren in Auftrag gegebenen Gutachten, auf dem das Buch fußt, geklärt wissen wollte. Ausschlaggebend für die Entfernung - formal: Nichtverlängerung seines Arbeitsvertrages - Paul Bosses aus dem Stift war seine Ehe mit einer „Nichtarierin“, der Christin jüdischer Herkunft Käte Bosse (die 1944 im KZ Ravensbrück ermordet wurde).

Die politische Situation ab 1933 war der „Hauptgrund“, so Stiftungsvorstand Werner Weinholt, der auch Theologischer Direktor der heutigen Paul Gerhardt Diakonie ist, unter Berufung auf das aktuelle Gutachten. Der damaligen Klinikleitung stellt er ein verheerendes Zeugnis aus. „Die haben ’rumgeeiert“, formuliert er salopp aber anschaulich das Verhalten der Verantwortlichen, die offenkundig lieber Bosse opferten als (noch größere) Schwierigkeiten mit den Machthabern zu bekommen, die die Geschicke der Klinik längst mitbestimmten.

Von einem „Dilemma“, in dem sich das Stift unter diesem „staatlichen Druck“ befand, spricht Wittenbergs Superintendent Christian Beuchel, der auch dem Kuratorium der Paul Gerhardt Diakonie angehört. (Dass Bosses Nachfolger im Stift ein strammer Nazi war, passt gut ins Bild.) Die Entscheidung von 1934, den verdienten Chefarzt rauszukanten, habe mit Gehaltsstreitigkeiten nichts zu tun gehabt, betont Beuchel unter Bezug auf Ergebnisse des aktuellen Gutachtens, „darüber ist gar nicht verhandelt worden“.

Diese Klarstellung ist insofern wichtig, als die Finanzfrage noch Jahrzehnte später und quasi bis heute als eine alternative Begründung für Bosses Karriere-Ende kursiert.

Mit den seinerzeit Verantwortlichen im Stift gehen Beuchel und Weinholt hart ins Gericht. Es gehe hier „mindestens um die Schuld, dass man etwas, das man hätte tun können, unterlassen hat“, sagt Weinholt.

„Es fehlte das Rückgrat, sich vor die Opfer zu stellen“ angesichts der „furchtbar geregelten und geduldeten Gleichschaltung“, mit der sich die Nazis das Land nach und nach zur Beute machten. Dass Wittenberg als Ganzes - Stadt, Kirche - sehr schnell sehr braun wurde, gehört zu den unbequemen historischen Wahrheiten.

Geschichte vom Wittenberger Stift wird am 2. April vorgestellt

Mit der Erforschung der Stiftsgeschichte 1918 bis 1945 und der Umstände, die zur Entlassung Paul Bosses 1935 führten, der daraufhin die Privatklinik Bosse gründete, hatte die Paul Gerhardt Stiftung den Berliner Historiker Helmut Bräutigam beauftragt.

Bräutigam, Archivar im evangelischen Johannesstift in Spandau, gilt als Experte für diakonisch-historische Themen und wird laut Weinholt am 2. April - dann wird das derzeit noch titellose Buch aus dem Wittenberger Drei Kastanien Verlag im Stift öffentlich vorgestellt - auch einen Vortrag halten. Mit der Veranstaltung im Krankenhaus will die Paul Gerhardt Diakonie auch an die Verdienste Paul Bosses erinnern. Im Foyer, kündigte Werner Weinholt an, werde an dem Tag eine entsprechende Gedenktafel enthüllt.

Nach allem was man bisher über die geplante Publikation weiß, ist das Werk eine schonungslose Aufarbeitung der Stiftsgeschichte während der NS-Zeit. Von einer „Weißwaschung“ der eigenen Historie, wie sie dem heutigen Krankenhaus (und der Stadt) mit Blick auf frühere Veröffentlichungen und trotz aktueller Gedenkkultur insbesondere von Teilen der Bosse-Verwandtschaft bisher vorgeworfen worden ist, kann jetzt jedenfalls keine Rede mehr sein. Die Nachfahren Paul Bosses sollen das Buch übrigens als erste in die Hand bekommen. (mz)