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Geschichte Julius Riemers Vergangenheit wird in Wittenberg beleuchtet

Die Stadt legt den ersten Zwischenbericht in Sachen Provenienzforschung zur Sammlung von Julius Riemer vor. Was die Recherchen ergeben haben.

18.04.2021, 18:31

- Die Lutherstadt Wittenberg unterzieht wie berichtet die naturkundlichen und völkerkundlichen Sammlungen von Julius Riemer einer Provenienzforschung, Schwerpunkt ist das Umfeld des Sammlers Oscar Rudolph Neumann (1867 bis 1946) in den Jahren 1933 bis 1945. Geklärt werden soll, unter welchen Umständen damals Objekte in die Sammlung Riemer gelangten. Im August 2020 wurde die Firma „Facts & Files Historisches Forschungsinstitut Berlin“ mit dem Projekt beauftragt, das vom Deutschen Zentrum Kulturgutverluste gefördert wird. Am Freitag hat die Stadt einen ersten Zwischenbericht veröffentlicht.

Für wissenschaftliche Arbeit

Facts & Files hat bislang in Archiven in Deutschland und den USA recherchiert. Die Recherchen sind noch nicht beendet und werden trotz Pandemie fortgesetzt. Oscar R. Neumann benutzte, heißt es, die verschiedenen Objekte seiner Sammlung für seine wissenschaftliche Arbeit. Er erhielt auch von anderen Forschern wie J. J. Menden und Gabriele Neuhäuser-Scott (1911-1998) zoologische Objekte, die er wissenschaftlich bestimmte. Neumann hat zahlreiche Publikationen mit Forschungsergebnissen zu Objekten seiner Sammlung vorgelegt.

Er selbst und seine Familie wurden ab 1933 in Deutschland als Juden diskriminiert und verfolgt. Am 17. Oktober 1941 übergab Neumann Julius Riemer kurz vor seiner Abreise nach Lissabon einen Teil seiner Sammlung zur Aufbewahrung. Einen anderen Teil veräußerte er mit Rücktrittsklausel an Riemer. Insgesamt handelt es sich vermutlich um hunderte von Sammlungsstücken.

Gemäß der „Erklärung der Bundesregierung, der Länder und der kommunalen Spitzenverbände zur Auffindung und zur Rückgabe NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgutes, insbesondere aus jüdischem Besitz“ sind die Übergabe bzw. der Verkauf von Sammlungsteilen an Riemer im Oktober 1941 aufgrund ihres Zeitpunkts und der Verfolgung nach derzeitiger Einschätzung von Facts & Files als verfolgungsbedingter Vermögensverlust zu bewerten. Auch wenn Neumann seine Sammlung aus freien Stücken bei Riemer zurückgelassen hat, kann davon ausgegangen werden, dass er dies ohne die Verfolgung in der NS-Zeit nicht getan hätte.

Die Emigration über Lissabon und Kuba in die USA wurde über das American Jewish Joint Distribution Committee (JDC) organisiert. Andere, bei früheren Forschungen entdeckte Quellen verweisen auch auf Riemers zusätzliche Bemühungen, Neumann vor dem Zugriff der Nationalsozialisten zu schützen und ihm die Flucht zu ermöglichen.

Neumann lebte ab 1942 in Chicago, wo auch seine Nichte Ines Asher lebte. Asher, die als Tochter von Neumanns Bruder seit 1925 in den USA lebte, und ihr Mann, der gebürtige Amerikaner Louis Asher, finanzierten die Flucht Neumanns in die USA über das JDC. Das JDC organisierte die Einreise jüdischer Flüchtlinge aus Europa in die USA, indem Sponsoren – in dem Fall der Neffe Louis Asher – Beträge für die Reise hinterlegten und für die Flüchtlinge bürgten.

Für Emigranten im Rentenalter wie Neumann wäre es ohne Sponsor unmöglich gewesen, ein Einreisevisum in die USA zu erhalten, da diese kontingentiert waren. Am 22. September 1942 nahm sich Neumanns Schwester Mária Helene Jacoby in Berlin das Leben, nachdem sie einen Deportationsbefehl erhalten hatte.

Das Leben genommen

Seine Schwester Alice Neumann, eine Malerin, nahm sich 1943 in Berlin ebenfalls vor ihrer Deportation das Leben. Seine Nichten, Kathi Feodora Noeren und Cäcilie Holländer, wurden von den Nationalsozialisten ermordet.

Neumann arbeitete nach seiner Flucht im Naturkundemuseum in Chicago, dem Field-Museum. Er war nahezu erblindet und starb 1946 in Chicago. Die weiteren Recherchen werden darauf abzielen, den Weg von Objekten der Sammlung Neumanns in die Sammlung Riemer, jedoch auch in andere Sammlungen in und außerhalb Deutschlands nachzuzeichnen. Insbesondere, wenn sie ursprünglich Teil des bei Riemer verbliebenen Konvoluts waren. (mz/Irina Steinmann und Marcel Duclaud)