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Ist der Schöpfungsbericht der Bibel naiv?

05.07.2009, 16:19

WITTENBERG/MZ/IRS. - Auch der Mann auf der Kanzel stellt diese Fragen ("Ist der Schöpfungsbericht naiv? Lohnt sich die Lektüre für den modernen Menschen heute überhaupt?"), aber seine Antwort fällt anders aus: Die Bibel, erläutert Wolfgang Böhmer, sei natürlich "kein Zeitzeugenbericht" und mit der Schöpfungsgeschichte sollte auch "keine naturwissenschaftliche Entwicklungsgeschichte aufgestellt" werden, sondern ein Bekenntnis zu Gott, aufgeschrieben in Bildern, aus einem anderen Jahrtausend, einer anderen Kultur.

Das ist zwar seit Jahrzehnten common sense in der Christenheit, wie jeder weiß, der mal Religionsunterricht hatte, doch gibt es neuerdings (wieder) Wort-für-Wort-Ausleger wie die Kreationisten, die dem Glauben nicht nützten, so Böhmer, sondern im Gegenteil "schaden": weil ein "Dialog mit Nicht-Christen dann nicht mehr möglich ist". Und die machten in Sachsen-Anhalt bekanntlich 80 Prozent aus.

Die Schöpfungsgeschichte war Sonntagvormittag in der Wittenberger Stadtkirche Gegenstand der fünften Kanzelrede 2009, gehalten von Sachsen-Anhalts Ministerpräsidenten Wolfgang Böhmer (CDU). Konkret der vierte Tag dieser Genesis, als Gott die Sterne schuf und das Licht, den Tag und die Nacht und damit auch die Zeit. Die Zeit, die dem Menschen das Bewusstsein der eigenen Endlichkeit beschert habe und damit auch die quälende Frage nach dem Sinn.

"Beherrschen wir die Zeit - oder beherrscht sie uns? Haben wir Zeit - oder hat sie uns?" Immer wieder steigt Böhmer vom Gipfel der theologischen Abstraktion hinunter in den Alltag. Hat nicht die Sonntagsarbeit die biblische Einteilung von Schaffens- und Ruhezeit längst unterhöhlt?, fragt er, und andererseits: Was wäre, wenn sonntags keine Kranken versorgt würden und keine Züge führen? Was ist zu halten von einer Zeit, einem Land, da 38 Prozent der Menschen in Ein-Personen-Haushalten lebten, in einer Großstadt wie Berlin gar 52,4 Prozent? "Der demografische Wandel ist zu einem ernsthaften Problem geworden", konstatiert Böhmer. Und wo doch noch Familie ist, da seien die Tagesabläufe vielfach "nicht mehr kompatibel". "Wir nehmen uns heute kaum noch Zeit innezuhalten", kritisiert er das, was Wissenschaftler neudeutsch "soziale Beschleunigung" nennen.

Dass die Bibel jenseits von Wissenschaft Orientierung geben kann, verdeutlicht Böhmer auch am Licht. Licht, das sich der Mensch heutzutage mit einem Schalter-Klick selbst schafft, wenn ihm der Tag nicht ausreicht - ein Beispiel für die Umsetzung der Aufforderung "Macht euch die Erde untertan!" Wohl kaum eine Passage sei indes so umstritten und missverstanden wie diese: Hier würden in der Bibel nicht Ausbeutung und Rücksichtslosigkeit verlangt, sondern im Gegenteil ein verantwortlicher Umgang mit der Erde zum Wohle aller und nicht gegen die Umwelt. "Unsere Lebenswelt ist keine sinnlose Anhäufung von Naturgesetzen", so das Fazit des Kanzelredners. "Es liegt in der Freiheit eines Christenmenschen, was wir mit den Stunden anfangen, die uns gegeben sind." Das gilt dann auch für Nichtchristen.