Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg Erinnerungen an den Zweiten Weltkrieg: Fast täglich Sirenenheulen

Wittenberg - Ich habe zwar keine Nacht im Bunker (MZ vom 19.05.2020 „Eine Nacht im Bunker“) in Wittenberg verbringen müssen, aber so manchen Vor- oder Nachmittag.
Wir wohnten in Berlin-Charlottenburg, als 1943 Berlin Ziel der alliierten Bombenangriffe wurde. Ich war elf Jahre alt. Mein Vater war an der Front. Und meine Mutter hatte die Verantwortung für vier Kinder, mein jüngster Bruder war im Mai erst geboren. Die besorgten Großeltern drängten zur Flucht. So packten wir das Nötigste zusammen und fuhren mit dem Zug zu den Großeltern nach Zahna.
Trotz Krieg und täglicher Lebensgefahr wurden wir in der Schule angemeldet. Da ich den Mittelschulweg (10-Klassen-Schule) in Berlin angefangen hatte, sollte ich diesen auch hier fortsetzen. Meine Mutter dachte ja, es sei nur für eine gewisse Zeit. Wenn der Krieg vorbei wäre, wäre alles wieder wie vorher. Deshalb musste ich nun täglich mit dem Zug nach Wittenberg fahren, denn eine 10-Klassen-Schule gab es in Zahna nicht.
Angst als Begleiter
Der Bunker in Wittenberg lag auf dem Schulweg zwischen Bahnhof und der Mädchenschule, heute Diesterwegschule. Fast täglich heulten die Sirenen, um die nahenden Flieger anzukündigen. Wir rannten so schnell wir konnten zum Bunker, um uns dort in Sicherheit zu bringen. Alle hofften, dass Wittenberg von den Bomben verschont blieb, aber genau wusste man das nicht. Schlimm war es, als Dessau bombardiert wurde.
Die Bomber waren ziemlich nahe. Die Angst begleitete mich immer auf dem Weg. Trotzdem wurden wir täglich zur Schule geschickt. An manchen Tagen kamen wir vom Bahnhof nur bis zum Bunker, harrten da vier bis fünf Stunden aus, dann flitzten wir zum Bahnhof, um schnell nach Hause zu kommen. Natürlich hatten wir auch Pech, und es fuhr kein Zug. Dann hieß es, warten oder nach Hause laufen. 15 Kilometer immer an den Schienen entlang. Das sah meine Mutter nicht gern. Sie meinte, wir sollten lieber auf den Zug warten. Insgeheim hoffte sie, dass es immer Erwachsene geben würde, die sich in Notsituationen um uns Kinder kümmerten.
Kinder entscheiden
In den letzten Kriegsmonaten 1945, auf den Straßen war es auch nicht mehr so sicher, entschieden wir Schulkinder oft selbst und gingen geradewegs vom Bahnhof zum Bunker, blieben dort bis Unterrichtsende und fuhren dann wieder nach Hause.
Heute bin ich 88 Jahre alt und erinnere mich an diese Zeit, wann immer ich am Bunkerberg vorbei gehe oder mich auf dem Berg auf eine Bank setze. Manchmal begegnen mir junge Menschen, denen ich meine Geschichten erzähle. Sie hören mir interessiert zu, aber einfühlen können sie sich wohl nicht. Das ist auch gut so.
Übrigens konnten wie nie wieder nach Berlin zurückkehren, da unser Haus in der Coubierstraße 1945 durch eine Bombe völlig zerstört wurde.
››Diese Zeilen schrieb Waltraut Mickosch, geborene Bieleke, per Mail an die Redaktion. Wenn Sie Ihre Erinnerungen an die letzten Kriegstage ebenfalls teilen möchten, schreiben Sie an [email protected]. (mz)
