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Erinnerung an Judenverfolgung Erinnerung an Judenverfolgung: Mahnung für die Zukunft in Wittenberg

Von Corinna Nitz 09.11.2018, 19:29
Zu einer Gedenkstunde mit Zeitzeugen wie Richard Wiener (auf dem Podium links) hatte die Lutherstadt Wittenberg am Abend des 9. November eingeladen.
Zu einer Gedenkstunde mit Zeitzeugen wie Richard Wiener (auf dem Podium links) hatte die Lutherstadt Wittenberg am Abend des 9. November eingeladen. Thomas Klitzsch

Wittenberg - Dass Erinnern kein bloßer „Rückblick in die Geschichtsbücher“, sondern ein „aktiver Prozess ist“, betonte am Freitagabend Wittenbergs Oberbürgermeister Torsten Zugehör (parteilos).

Bei einer Gedenkstunde anlässlich des 80. Jahrestages der Pogromnacht sagte er im voll besetzten großen Saal des Alten Rathauses: „Die Reichspogromnacht bleibt Teil unserer Geschichte, und sie wird eine Mahnung für die Zukunft sein.“ Es „ist unser aller Aufgabe, uns für die Unantastbarkeit der Menschenwürde einzusetzen“.

Eindringliche Worte

Wie sehr die inzwischen (grundgesetzlich) verbriefte Menschenwürde an jenem 9. November 1938 von den Nazis und ihren Helfern auch in Wittenberg mit Füßen getreten wurde, wurde einmal mehr bei einem Zeitzeugengespräch zu dieser Gedenkstunde deutlich. In eindringlichen Worten beschrieb der inzwischen 91-jährige Richard Wiener aus den USA, Ehrenbürger von Wittenberg seit 2010, die Ereignisse jenes November-Pogroms, nach dem das Leben des damals Elfjährigen, das seiner Familie und der anderen Wittenberger Juden ein anderes war.

Auch die aus Israel angereiste Ruth Friedmann, Nachfahrin der Familie Hirschfeldt, erinnerte an deren Schicksal. Einige Familienmitglieder kamen im Holocaust um, doch sei zu Hause darüber nicht gesprochen worden. Das änderte sich später und als Friedmann vor einigen Jahren den Wittenberger Reinhard Pester traf, stellte sie auch Fotos für dessen Stolperstein-Initiative zur Verfügung.

Im Anschluss an das traditionelle Pogromgedenken am Mahnmal an der Stadtkirche Wittenberg am Freitagabend stand in der Kirche u. a. ein Konzert auf dem Programm. Während die Gedenkveranstaltungen zum 80. Jahrestag der Pogromnacht damit abgeschlossen sind, kann eine Ausstellung, die ebenfalls in diesem Rahmen eröffnet wurde, weiter besucht werden: Unter dem Titel „Erinnerungen ans Schtetl“ werden im Cranach-Haus Markt 4 wie berichtet Bilder von Marc Chagall und Anatoli Kaplan der Sammlung Gerd Gruber gezeigt. 

Mit in dem von dem Wittenberger Verleger und Wiener-Vertrauten Mario Dittrich moderierten Zeitzeugengespräch saß eine junge Frau: Leonore Kriegel war als 18-Jährige für ein Jahr in Israel, um mit Holocaust-Überlebenden zu arbeiten. Heute sehe sie es als ihre wichtige Aufgabe an, die Erinnerung an diese Menschen, die immer weniger werden, „am Leben zu halten“.

Was jüdisches Leben im Hier und Jetzt und in der Zukunft nicht zuletzt in Sachsen-Anhalt betrifft, so machte Ministerpräsident Reiner Haseloff deutlich: „Wir haben auch als Land ein großes Interesse daran.“ Erst diese Woche konnte man mit Charlotte Knobloch vom Zentralrat der Juden in Deutschland den Startschuss für den Synagogenneubau in Dessau geben, so Haseloff. Dies sei auch für Wittenberg wichtig, weil es hier keine Kultusgemeinde gab oder gibt und heute wie früher, etwa zu hohen Feiertagen, dorthin gefahren werden muss.

Breites Bündnis

Gegen 18.30 Uhr löste sich die Gemeinschaft im Alten Rathaus auf, das Gedenken wurde am Mahnmal an der Stadtkirche fortgesetzt.

Zurück bleibt der Eindruck, dass ein breites Bündnis in der Stadt bei der Erinnerung an das Unerträgliche vor 80 Jahren und der Vorbereitung der Gedenkprojekte mit Bedacht und Herzblut bei der Sache war - erinnert sei nur an die vielen Schüler, die sich in ganz kreativer Weise dem ernsten Thema näherten.

Auf dem Weg

Die größte Leistung aber, auch das muss festgehalten werden, haben die Zeitzeugen vollbracht. Bereits am Vortag dieses 9. November sagte die Leiterin des Luther-Melanchthon-Gymnasiums, Anja Aichinger, beim „Rundgang gegen das Vergessen“, sie sei dankbar, dass Zeitzeugen „die Kraft gefunden haben, zurückzukommen und zu sprechen und dass sie die Kraft haben zu vergeben“.

In der Dankbarkeit für die Vergebung könne man einen „gemeinsamen Weg in die Zukunft gehen“. Das klang gut und richtig und entspricht auch dem Credo von Richard Wiener, der sich gegen jegliche Form von Hass und Rache ausspricht und zur Versöhnung aufruft.

Umso beängstigender sind die radikalen Kräfte, die wieder vielerorts in Deutschland und in Europa wirken. Oder um es mit Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu formulieren, der am Freitag zur Gedenkstunde in Berlin sprach: „Der Firnis der Zivilisation ist dünn.“ (mz)