Enkel des Türmers erinnert sich
Wittenberg/MZ. - Schon der Aufstieg über steile hölzerne Treppen ist ein kleines Abenteuer, ebenso der Weg über die Brücke von einem zum anderen Turmaufbau, bei gutem Wetter lässt sich weit sehen, bis Leipzig zuweilen - und nicht zuletzt lockt in lichter Höhe die Türmerwohnung, die der Heimatverein wieder herrichtet.
Wer mehr über Türmerwohnung und Türmerleben in Wittenberg erfahren möchte, der kann jetzt auf ein Buch zurück greifen, das gerade erschienen ist. Geschrieben hat es Wilfried Otto, der Enkel des letzten Türmers der Stadt. Hermann Otto hatte im Jahre 1896 seinen Dienst hoch droben angetreten und samt Familie - drei der sechs Kinder, darunter Wilfried Ottos Vater, erblickten auf dem Turm das Licht der Welt - die kleine Wohnung bezogen. Der Türmer starb 1921, seine Frau Anna Otto lebte aber bis 1945 auf "ihren geliebten Türmen". Wilfried Otto möchte seinen Vorfahren, deren Pflichterfüllung, tadelsfreie Arbeit und Familiensinn er würdigt, nun ein Denkmal setzen - und zudem ein Stück Zeitgeschichte lebendig erhalten.
Gleichwohl handelt es sich bei dem Buch um eine Autobiographie. Der rote Faden ist die Lebensgeschichte des Wilfried Otto. Seine Erinnerungen, seine Sicht auf die Stadt und ihre Entwicklung über die Jahrzehnte spiegeln sich in den zahlreichen Kapiteln wider. In denen geht es um den Baumfrevel an der Luthereiche im Jahre 1904 und die Notlandung des Zeppelins zwischen Bülzig und Abtsdorf, die eine kleine Völkerwanderung auslöste ebenso wie um das Eisenwerk Joly oder um Mühlanger.
Denn dort ist der Autor aufgewachsen, sein Vater hatte einst Ende der 20er Jahre das Umspannwerk Prühlitz mit aufgebaut, zog später jedoch mit seiner Frau, deren Eltern ein Haus mit Geschäft in der Collegienstraße besaßen, nach Falkenberg. Erst Ende der 40er Jahre kehrte er zurück und wurde Dienststelleneiter des Umspannwerks. Wilfried Otto selbst erblickte zwei Tage nach Kriegsende im Waldkrankenhaus Bad Düben das Licht der Welt (wenige Tage darauf starb Anna Otto im Paul-Gerhardt-Stift). Er ging in Mühlanger, später in Friedrichstadt zur Schule, lernte in Zörnigall Bauschlosser, arbeitete nach einer Zeit auf Montage bei einer Schlosserei in Kleinwittenberg - bevor er in den 70er Jahren ins Stickstoffwerk wechselte, als Lehrausbilder. Später wurde er Leiter der Metall-Grundausbildung. Nach der Wende folgten für den Türmer-Enkel wie für so viele im Osten unstete Zeiten: Arbeitslosigkeit, Qualifizierung, Arbeit im Westen, Lehrausbilder in der Justizvollzugsanstalt, Früh-Rentner.
Zeit, zurück zu blicken. Und sich der Gespräche mit dem Vater zu erinnern, der berichtet hatte vom harten Leben auf den Türmen, zugleich aber sagte: "Ich möchte keine Stunde missen, die ich dort oben verbracht habe." Es war stets zugig und oft kalt auf den Türmen, lediglich einen Kachelofen gab es. Der Dienst war anstrengend, denn rund um die Uhr musste Ausschau gehalten werden, ob es irgendwo brennt. Damit die Stadt wusste, dass der Türmer auf dem Posten ist, galt es regelmäßig ins Horn zu blasen. Und den Job des Glöckners hatte der gelernte Dachdecker Hermann Otto, der manchen Schaden an den Türmen selbst behob, gleich mit übernommen. Die Familie half, die Arbeiten zu erledigen.
Im Buch schreibt Wilfried Otto von der guten Stube im Südturm, die die Familie nur selten nutzte. Gewohnt wurde im Nordturm. Die Kinder, die nicht immer 192 Stufen absteigen wollten, spielten zwischen den Türmen Haschen und Fußball. Einen Turmkater namens Peter gab es selbstverständlich auch - einmal wagte er sich bei der Jagd nach Vögeln zu weit aufs Dach, stürzte ab und überlebte wie durch ein Wunder. Weihnachten kamen immer die Bläser auf den Turm - und erhielten gegen die Kälte Glühwein von Oma Otto.
Nach dem Tod ihres Mannes mochte Anna Otto die Türme nicht verlassen, sie handelte einen Vertrag mit der Stadt aus und erhielt Wohnrecht gegen die Übernahme kleinerer Aufgaben. Die alte Frau wurde über die Jahre zu einer Berühmtheit, zu einer Attraktion der Stadt. Sie erhielt viel Besuch, Zeitungen schrieben über die Türmerin von Wittenberg, die natürlich nicht immer absteigen konnte, wenn Gäste da waren. Sie ließ einfach einen Schlüssel herunter - ebenso wie den Korb, in den die Post oder diverse Lebensmittel gelegt wurden. Und apropos Glocken. Ihre Schwingungen übertrugen sich derart auf den Turm, dass mitunter das Geschirr aus dem Schrank fiel und die Bilder an den Wänden schaukelten.
"Der Enkel des Türmers"; Buch von Wilfried Otto; ISBN 978-3-940398-02-4; 240 Seiten mit Fotos und historischen Dokumenten; zu erhalten bei "Thalia" und "verbo solo" oder persönlich beim Autor, Telefon: 03 49 1 / 66 76 61.