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Einladung beim Bundespräsidenten Einladung beim Bundespräsidenten: Johanna Keller auf den Spuren dunkler Geschichte

Von Irina Steinmann 20.10.2016, 06:58
Johanna Keller forscht über NS-Zwangslager in der Region.
Johanna Keller forscht über NS-Zwangslager in der Region. Thomas Klitzsch

Wittenberg - Vor einigen Tagen war Johanna Keller beim Bundespräsidenten. Kurz vor Ende seiner Amtszeit wollte Joachim Gauck wissen, wie junge Leute sich die Entwicklung ihres Landes vorstellen. „Zukunftsforum“ (#DE 2036) heißt das Format, das die junge Apollensdorferin mit 99 anderen für zwei Tage ins Berliner Schloss Bellevue führte. In Workshops befasste man sich am Sitz des Bundespräsidenten etwa mit dem Thema „Demokratie, Teilhabe, Engagement“. Ein Ergebnis: Es gibt zu wenig politische Bildung an den Schulen. Und: Es braucht mehr „Politiker zum Anfassen“, wie Keller sagt, und „mehr Transparenz“ im politischen Geschäft.

Dabei ist Johanna Kellers Metier eher die Geschichte. Kein Widerspruch. Aus der Geschichte lässt sich, aus der Geschichte muss man lernen, wenn man eine bessere Zukunft will. Seit 2014 studiert die 20-jährige Absolventin des Lucas-Cranach-Gymnasiums Europäische Geschichte an der Uni Magdeburg. Parallel befasst sie sich privat bereits seit 2013 mit einem dunklen Kapitel der deutschen Geschichte in Wittenberg: mit den dortigen NS-Zwangslagern. Dass es in Apollensdorf seit 2015 einen Gedenkort für das Strafgefangenenlager Griebo/Apollensdorf gibt, ist maßgeblich auf ihr Engagement zurückzuführen.

Für Keller ist ihr Motiv glasklar: Sie stamme selbst aus Apollensdorf, da wolle man doch wissen, was dort damals geschah. Und: „Wenn man einmal dabei ist, hört man so schnell nicht wieder auf.“ Jedes Puzzleteil, gefunden in Archiven, ziehe ja die Suche nach einem nächsten nach sich. „Viele Lager sind noch unerforscht“, sagt Keller - und spricht jetzt nur vom Raum Wittenberg. Was man wiederum weiß, und das ist auch dank ihrer Hilfe zunehmend mehr, zeige, dass das Thema Zwangsarbeiter seinerzeit „an der Belegschaft nicht vorbeigegangen“ sein kann: Von 4.000 Beschäftigten, nennt Keller eine Beispielzahl aus den Stickstoffwerken vom Frühjahr 1945, seien ein Viertel zwangsweise dort eingesetzt gewesen. Jeweils (mindestens) 1.500 Insassen zählten allein die beiden bekannten Lager auf den Elbwiesen.

„Vom Vergessen zum Erinnern“ heißt Kellers privates Forschungsvorhaben, de facto ein „Ein-Mann-Projekt“ (ihr Vater fährt sie in Archive), in dessen Rahmen sie etwa - und gerade wieder gemeinsam mit Renate Gruber-Lieblich - Vorträge an Schulen hält und weswegen man bei der Initiative „Demokratisch Handeln“ (Jena) auch auf sie aufmerksam geworden war. Dass sie jetzt auf Schloss Bellevue auch deren Schirmherrin, die Grande Dame der Liberalen Hildegard Hamm-Brücher, persönlich traf, hat Keller offenbar mindestens ebenso beeindruckt wie ein - Protokoll hin oder her - ziemlich „lockerer“ Bundespräsident. „Hier wohnt auch nur ein Bürger“, soll Gauck gesagt haben und das sagt sich natürlich sehr kokett, wenn man der erste Mann im Staate ist, weshalb die junge Wittenbergerin diese Situation denn auch als „surreal“ empfunden hat. Andererseits: Viele Leute vergäßen, dass Politiker „keine Roboter, sondern Menschen“ seien: „Es muss mehr verziehen werden“, findet die 20-Jährige. Ein bemerkenswerter Satz.

Dass sie es mit Menschen zu tun hat, vergisst die angehende Historikerin nie. In diesen Tagen bekommt sie wieder einmal Besuch von Nachfahren ehemaliger Insassen des Strafgefangenenlagers Griebo: Bettina Harreß, Enkelin eines Inhaftierten, kommt mit dessen Sohn nach Wittenberg. Es ist nicht der erste Besuch der Familie aus Rüsselsheim, die noch immer nicht weiß, wo ihr 1942 umgekommener (Groß-)Vater sein Grab fand.

In den Lagern gab es nicht nur Widerständler, sagt Keller, da waren Kriminelle und da waren wegen Kleinigkeiten in Ungnade Gefallene, auch Nazis. „Ich will da keinen Unterschied machen“, betont die junge Forscherin angesichts der allgemein unmenschlichen Behandlung: „Das wünscht man keinem.“ Der Großvater von Harreß etwa verschwand, wie diese selbst 2015 berichtete, weil er einen Hitlerjungen geohrfeigt haben soll.

Nach einem Thema für ihre Bachelor-Arbeit wird Johanna Keller also nicht suchen müssen, nach einem neuen Studienort für ihren Master schon: An der Uni Magdeburg werde die Europäische Geschichte demnächst abgeschafft. Was die Erforschungen der dunklen Kapitel Wittenberger Geschichte in der Stadt selbst angeht, dürfte Johanna Keller dereinst wohl die Nachfolge von Renate Gruber-Lieblich antreten, mit der sie bereits heute eng zusammenarbeitet.

Über die Arbeit von Johanna Keller vor Ort kann man sich auf deren Homepage www.vom-vergessen-zum-erinnern.com informieren.

(mz)