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Bergwitz, der Normalfall Ost?

Von Irina Steinmann 15.09.2006, 14:58

Bergwitz/MZ. - No Nazis inside, lautet die Devise. Der Saal des Gemeindezentrums ist voll, 100 Leute bestimmt.

Aus Bergwitz, Kemberg, Wittenberg und anderswo im Kreis sind sie gekommen, Lokalpolitiker, Kirchenvertreter, Jugend- und Polizeiexperten und Normalbürger, um auszuloten, wie sich Rechtsextremen begegnen lässt. Anlass für die konzertierte Aktion des Ortsteils Bergwitz, der Stadt Kemberg, der Verwaltungsgemeinschaft sowie des Netzwerks "gegenPart" und der Beratungsstelle für Opfer rechter Gewalt war der Überfall auf einen jungen Mann am Bahnhof vom 8. Juli. Bergwitz gilt als Gründungsort der "Kameradschaft Landkreis Wittenberg", zudem hat hier NPD-Kreisgeschäftsführer Christian Klimpel seinen Wohnsitz.

Klimpel ist laut "gegenPart"-Vertreter Steffen Andersch "die Integrationsfigur schlechthin" zwischen der "Kameradschaft" und der sich nach außen gerne bieder gebenden Partei. Andersch versorgt das Publikum mit den rechten Eckdaten für den Landkreis. Rund 20 Mitglieder zähle die "Kameradschaft" und sie verfüge über ein Mobilisierungspotential von etwa 50 Mann. 15 bis 20 Mitglieder habe der "nicht sonderlich aktive" Kreisverband der NPD. Als informelle Treffpunkte nennt Andersch die Gaststätte eines nördlichen Nachbarortes von Wittenberg, einen Bauwagen auf Bergwitzer Privatgelände und das einschlägige Bekleidungsgeschäft in der Kreisstadt. Sechs Gewalttaten gingen im ersten Halbjahr auf das Konto Rechtsgerichteter. Anderschs Fazit: Die Szene im Landkreis ist organisiert, kann koordiniert vorgehen und ist vernetzt mit anderen Regionen. Der Netzwerker gegen Rechtsextremismus sagt auch: Bergwitz und der Landkreis "ragen nicht sonderlich hervor" auf der Landkarte rechter Umtriebe, sondern seien vielmehr der "Normalfall in Ostdeutschland".

Im Landkreis Wittenberg "besteht ein Handlungsbedarf", erklärt auch Marco Steckel von der Opferberatung Dessau. Für Raunen im Plenum sorgt er mit einem - an sich nicht neuen - Bericht vom Munitionsfund bei einem 16-Jährigen im Zusammenhang mit dem Überfall auf zwei Vietnamesen am Neujahrsmorgen in Gräfenhainichen; "die Munition stammte aus Wehrmachtsbeständen".

"Wie ist eine nachhaltige Bekämpfung des Rechtsextremismus im Landkreis Wittenberg möglich?", lautet der Titel dieses Thementages und so kreist die Diskussion nach den Referaten der beiden Experten insbesondere um diese drei Fragen: 1. Darf man sich mit Rechtsextremisten an einen Tisch setzen in der Hoffnung, sie auf einen richtigen Weg zu bringen? Heidrun Weise, die parteilose Bürgermeisterin von Bergwitz, die sich maßgeblich mit für die aktuelle Veranstaltung eingesetzt hatte, scheint auch dazu bereit. "Ich halte es nicht für gut, diese Menschen zu stigmatisieren", sagt auch Roland Kühn, Leiter des Präventionsdezernats der Polizeidirektion Dessau, während Andersch und Steckel davor warnen, den "Feinden der Demokratie" unfreiwillig ein Podium zu bieten.

2. Welchen Einfluss haben die Erwachsenen - im positiven wie im negativen Sinn? Hier findet der Pfarrer von Bergwitz sehr klare Worte. "Demokratie muss bewusst gestaltet werden", erinnert Berthold Hippe, "wir Erwachsenen müssen uns selber am Riemen reißen und die Sache nicht den Schreifritzen überlassen." Hippe warnt auch vor einer "Wagenburg-Mentalität": "Jalousien runter, bissiger Hund auf dem Hof - wollen wir die Straße etwa dem Mob überlassen? Dann gnade uns Gott." Werner Reckziegel, PDS-Kreistagsabgeordneter aus Radis, appelliert an Eltern und Großeltern, Vorbilder zu sein.

3. Wird alles wieder gut, wenn es nur hinreichend Jugendclubs, Lehrstellen und Arbeitsplätze gibt? Das hoffen mehrere Kommunalpolitiker. Moderator Thorsten Seelig, Chef der Verwaltungsgemeinschaft, und Kembergs Bürgermeister Rainer Schubert argumentieren in diese Richtung. Am nächsten dran aber ist, was den Umgang mit mitlaufendem Nachwuchs angeht, wohl dieser zornige junge Mann: "Wir müssen sie (die Rechten) uncool machen", ruft er, "so dass niemand mehr Bock hat, ein Nazi zu sein!" Die Veranstaltung endet nach gut zwei Stunden. Das Problem bleibt.