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Ausgewandert nach Kanada Ausgewandert nach Kanada: Foto weckt Erinnerungen

Von Karina Blüthgen 17.10.2016, 06:40
Gisela Klein (li.) mit ihrem Mann Konrad in Kanada.
Gisela Klein (li.) mit ihrem Mann Konrad in Kanada. privat

Wittenberg - „Der Kessel war doch riesig!“, staunt Gisela Klein beim Anblick des über 70 Jahre alten Fotos. Manchmal sind Erinnerungen aus der Kindheit ja trügerisch, aber in diesem Fall lag sie richtig. Der Kessel stammte von der Marmeladenfabrik Bourzutschky, er war durch den Bombenangriff auf den Wittenberger Bahnhof im April 1945 aus der Verankerung gerissen und bis auf den Bahnhofsvorplatz geschleudert worden.

Als sich Gisela Klein vor kurzem an die Mitteldeutsche Zeitung wandte, ging es ihr um eine Bestätigung dessen, was ihr im Gedächtnis geblieben war. Sie schreibe gerade an einem Lebenslauf für ihre Nachfahren, teilt sie mit. Dass sie dafür nicht mal schnell an die wichtigen Orte ihres Lebens reisen kann, hat einen einfachen Grund. Gisela Klein lebt seit 1966 mit ihrer Familie in Kanada.

1904 hatte sich ihr Großvater Otto Paul Dürkop, ein gelernter Buchdrucker, nach seiner Wanderschaft in Wittenberg niedergelassen. Er richtete im Hofgebäude hinter seinem Wohnhaus, Katharinenstraße 4, eine Druckerwerkstatt ein. Zwei Jahre später wurde seine Tochter Gerda geboren, die Mutter von Gisela Klein. Diese reiste 1927 nach Detroit, um eine dort lebende Tante zu besuchen. Sie lernte dort ihren künftigen Ehemann kennen, der in einer Autofabrik arbeitete, und blieb in den USA. Während der Wirtschaftskrise 1930 nahm der Vater eine Stellung in der Auto Union in Chemnitz an, die Familie kehrte nach Deutschland zurück.

„Wir alle überlebten den Bombenhagel auf Chemnitz“, schreibt Gisela Klein, 1936 als drittes von vier Kindern geboren, in ihrer Lebensgeschichte. Ihr Großvater lud die Familie ein, nach Wittenberg zu kommen, „der alljährlichen Besuchsstadt seit meiner Kleinkindheit mit schönen Erinnerungen, zu denen die Aufwartungen zur Türmerin Otto der Stadtkirche gehörten“.

Nach einer Fahrt im offenen Güterzug kam die Familie im Frühsommer 1945 auf dem Wittenberger Bahnhof an. „Auf dem Gelände prägte sich mir als erstes Bild jenes des schräg liegenden Kessels der Marmeladenfabrik Bourzutschky ein.“ Sie glaubte, auch die Stadt zerstört vorzufinden, dem war nicht so. Jedoch hatte eine Bombe das Haus der Großeltern getroffen. Diese war nicht explodiert, hatte alle Ebenen durchschlagen und war im Keller gelandet. Ein Onkel, ein Frühheimkehrer, habe sie entschärft.

Als Kind sei sie mit anderen oft zur Tankstelle Rost, Katharinenstraße 1, gelaufen. Dort baten sie um das Einölen ihrer Rollschuhe. „Der Sohn tat dies immer gut gelaunt mit einem Lächeln. Nie schickte er uns zum Kuckuck, wenn wir zweimal am Tag bittend angerollt kamen.“ Mit Freundinnen meldete sie sich 1948 im Stadttheater in der Wichernstraße, da dort für Weihnachten die Oper „Hänsel und Gretel“ einstudiert wurde. „Als ich meinen Namen nannte, war man platt. Die aus Berlin engagierte Sängerin, die die Hexe spielen sollte, hieß wie ich: Gisela Lüdicke.“

Die Lehre als Großhandelskaufmann begann sie im Hotel „Goldener Adler“, „ich war sogar der erste kaufmännische Lehrling dort“. Ein einschneidendes Ereignis war 1954 der Auslöser, Wittenberg zu verlassen. Anfang September war sie mit ihrer Mutter und jüngeren Schwester auf einem Spaziergang, als sie von drei sowjetischen Soldaten belästigt wurden. Da Gisela ihre Mutter verteidigte, landete „eine schwere Russenfaust in meinem Gesicht. Noch im selben Monat verließ ich Wittenberg für immer.“

Sie ging nach München, wenig später folgten Mutter und Schwester. 1961 heiratete sie einen Uhrmacher, das Paar bekam 1962 ihre Tochter Linda. Es sei reine Abenteuerlust gewesen, die sie 1966 in das große Land Kanada gelockt habe, schreibt Gisela Klein. Sie lebten zuerst an der Atlantikküste, in Moncton. Zwei Jahre später reisten sie mit dem Auto quer durchs Land an die Pazifikküste, um in Kamloops sesshaft zu werden. Als Uhrmacher haben sich beide selbstständig gemacht. „Obwohl wir im kanadischen Konsulat in München nur eine Aufenthaltsgenehmigung mit Arbeitserlaubnis für fünf Jahre beantragt hatten, stellte der Konsul Einwanderungspapiere aus“, merkt sie amüsiert an. „Er wusste im Voraus, wir bleiben.“

1995 hat sie ihrem Mann Wittenberg gezeigt, 1999 ihrer Tochter. „Die Katharinenstraße 4 ist noch immer in Familienbesitz“, schreibt sie. Einen Spielkameraden habe sie ausfindig machen können und mit dem Sohn der Tankstelle Rost einige Worte gewechselt. „Ihn erkannte ich sofort wieder, das gleiche freundliche Lächeln.“ Sie freue sich, dass Wittenberg durch die Wiedervereinigung schön gestaltet dem großen Reformationsfest entgegensehen könne. Nach Europa wird sie nicht wieder reisen. (mz)

Der große Kessel 1945 auf dem Bahnhof Wittenberg.
Der große Kessel 1945 auf dem Bahnhof Wittenberg.
Heimatverein
Die Familie lebt seit Ende der 60er Jahre in einer Siedlung mit Einfamilienhäusern.
Die Familie lebt seit Ende der 60er Jahre in einer Siedlung mit Einfamilienhäusern.
privat