Weißenfelser flüchtete 1989 Weißenfelser flüchtete 1989: "Nur meine Trompete habe ich mitgenommen"

Weißenfels - Wahrscheinlich hat Thomas Riemann in diesem Jahr öfter als sonst an jene Augusttage gedacht. Als der Weißenfelser die Enge nicht mehr aushielt. Als er in den Zug gen Westen stieg und glaubte, ein langes Kapitel seines Lebens endgültig hinter sich gelassen zu haben. Wie so viele prägende Erlebnisse von Zeitgenossen hat sich auch Riemanns endgültige Abkehr von der DDR in diesem Jahr zum 30. Mal gejährt.
Dass er im August 1989 von einem Verwandtenbesuch in der Bundesrepublik nicht zurückkehren würde, ist dabei nur folgerichtig. „Ich fühlte mich schon als Schüler in diesem Land nur noch gegängelt“, erzählt der gebürtige Weißenfelser, Jahrgang 1957. Pionierhalstuch und FDJ-Hemd trägt er nur, wenn es sich absolut nicht vermeiden lässt.
In den 80er Jahren verweigert er den Dienst an der Waffe
In den 80er Jahren verweigert er den Dienst an der Waffe und geht als Bausoldat auf die Insel Rügen. „Seit der 7. Klasse hab’ ich am gesellschaftlichen Leben praktisch nicht mehr teilgenommen“, sagt Riemann, der in der heutigen Beuditzschule und in der Einsteinschule gelernt hat.
Riemanns Refugium wird die Musik. Beim Klavierunterricht beim Pfarrer, beim Orgelspiel in der Burgwerbener Kirche. Doch dass er Kirchenmusiker werden will, damit ist der Vater ganz und gar nicht einverstanden. Und so beginnt der junge Riemann eine Lehre als Augenoptiker im Familienbetrieb.
Musik als Hobby lässt sich Riemann nicht nehmen
Doch die Musik als Hobby lässt sich Riemann nicht nehmen. Mit „Conatus“ füllt er das Kulturhaus. Bei den Possenhainern spielt er Trompete und singt. Das evangelische Gemeindezentrum „Zum Schützen“ wird für ihn und viele seiner Freunde zum Treffpunkt. Lothar Tautz, später Moderator am Runden Tisch in Weißenfels, holt Riemann in die Band „Naturrein“, die sich unter anderem
den Umweltschutz zum Thema macht. „Das war der Stachel. Uns wurde immer klarer: So kann es nicht weitergehen“, erinnert sich Riemann. 1988 stellt er einen Antrag auf Ausreise aus der DDR. Später nimmt er ihn wieder zurück. Doch 1989 wird die Enge unerträglich. Im April darf er zum Geburtstag der Großmutter in die Nähe von Karlsruhe reisen. Er will dort bleiben. Doch Mutter und Bruder schaffen es noch einmal, ihn davon abzubringen.
„Nur meine Trompete habe ich mitgenommen.“
Im August jedoch - er darf zur silbernen Hochzeit des Onkels reisen - lässt Riemann die Gelegenheit nicht mehr verstreichen. „In Erfurt habe ich einen Abschiedsbrief an Familie und Freunde in den Kasten gesteckt“, erzählt Riemann und fügt hinzu: „Nur meine Trompete habe ich mitgenommen.“
An jenem Tag kann der Weißenfelser freilich nicht ahnen, dass er Familie und Freunde schon bald wiedersehen würde. Den Abend des Mauerfalls habe er gar nicht so intensiv bemerkt, erinnert er sich. Es ist zuvor vielmehr Genschers Balkon-Rede vor DDR-Flüchtlingen in der Prager Botschaft der BRD, die ihn zutiefst berührt. „Ich habe nur geheult“, gesteht Riemann.
Weihnachten 1989 kommt der Weißenfelser zum ersten Mal nach dem Mauerfall wieder
Weihnachten 1989 kommt der Weißenfelser zum ersten Mal nach dem Mauerfall wieder in seine Heimatstadt. Seinen Lebensmittelpunkt aber verlagert er für sechs Jahre in die alte Bundesrepublik. Arbeitet als Augenoptiker, findet eine Band, mit der er Musik machen kann. Doch dann geht 1995 der Vater in Rente und Bruder Uwe fragt, ob beide nicht im elterlichen Betrieb weiterarbeiten wollen. Thomas Riemann will, sieht sich noch immer tief verwurzelt in Weißenfels und kehrt an die Saale zurück.
Ein kritischer Geist ist der Hobbymusiker bis heute geblieben. Bisweilen ist er enttäuscht von dem, was sich da in den vergangenen drei Jahrzehnten entwickelt hat. Vom Gezerre der Parteien. Von Menschen, die die Welt immer mehr nur durch die Brille des eigenen Ichs sehen. Von sozialen Medien, deren Allgegenwart er „furchtbar“ findet.
Dabei ist Riemann, der als Trauerredner Hinterbliebene begleitet, dankbar für den Zeitpunkt, da er auf diese Welt gekommen ist. „Wir sind doch so vom Glück begleitet“, macht er sich und späteren Generationen bewusst. Kein Krieg, kein Hunger, die friedliche Revolution. 30 Jahre danach sagt er: „Ich möchte keine Minute meines bisherigen Lebens missen.“ (mz)