1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Weißenfels
  6. >
  7. Projekt in Weißenfels: Projekt in Weißenfels: "Ich habe spontan zugesagt"

Projekt in Weißenfels Projekt in Weißenfels: "Ich habe spontan zugesagt"

Von Birger Zentner 15.03.2014, 12:31
Ein uraltes Familienbild der Hamburger Familie Aquist.
Ein uraltes Familienbild der Hamburger Familie Aquist. Birger Zentner Lizenz

Weißenfels/MZ - „Liebe Ilse, ich habe deine geliebten Eltern sehr häufig in Theresienstadt getroffen.“ So beginnt ein Brief, den Martha Aquist an Ilse Lewinsohn, die Schwiegertochter des Weißenfelser Juden Julius Lewinsohn geschrieben hat. Wann genau, ist unklar, aber wohl eine ganze Weile nach dem Ende der Naziherrschaft als 71-Jährige und Jahre nach den entsetzlichen Erlebnissen in Theresienstadt.

Brigitte Grothum liest den Brief am Mikrofon. Die Schauspielerin spricht mit ruhiger Stimme, scheinbar emotionslos, ohne Thea-tralik, was die Worte besonders unter die Haut gehen lässt. Es ist ein Brief, in dem Ilse und ihr Mann Ludwig Lewinsohn erfahren, was den Eltern im Konzentrationslager Theresienstadt widerfahren ist.

Auch mehr als 70 Jahre nach den schrecklichen Ereignissen ist ergreifend, was Martha Aquist schreibt. „Dein Vater“, schreibt sie an Ludwig, „wurde immer schwächer.“ Auch über die Mutter - die Eltern waren von den Nazis 1942 nach Theresienstadt deportiert worden - schreibt Martha Aquist, wie es ihr immer schlechter ging. Der Vater habe sich ein Zimmer mit 40 anderer teilen müssen. Die Stadt selbst hatte eigentlich 6 000 Einwohner, aber 60 000 wurden dort zusammengepfercht. Täglich starben 200 Menschen. Julius Lewinsohn kam 1943 um, seine Frau im darauffolgenden Jahr.

Dass ihre fünf Kinder dem Horror noch rechtzeitig entrinnen konnten, grenzt an ein Wunder. Den Töchtern Dora, die ein Mitglied der Hamburger Familie Aquist geheiratet hatte, und Paula gelang die Flucht nach Israel. Die Söhne Moritz, Ludwig und Edward entkamen nach Amerika.

Der Brief von Martha Aquist ist einer von vielen, die jetzt für eine Audio-CD aufgezeichnet werden. „Wir wollen damit einen anderen Zugang zur Geschichte der Juden in Weißenfels schaffen“, sagt Enrico Kabisch vom Simon-Rau-Zentrum, das sich seit Jahren um die Erforschung der jüdischen Schicksale verdient macht. 40 Familien gehörten einst zur jüdischen Gemeinde in Weißenfels, zu den Nachfahren von 24 hat das Simon-Rau-Zentrum mittlerweile Kontakt aufgenommen. Daher stammen auch die Briefe, aus denen Brigitte Grothum, aber ebenso andere lesen. „Wir haben unter anderen Karoline Herfurth, Bettina Lamprecht, Katharina Franck und Dirk von Lowtzow gewonnen“, sagt Kabisch. Insgesamt machen 18 Künstler mit - unentgeltlich.

„Als ich die Nachricht mit der Anfrage über Facebook bekam, war ich überrascht, aber ich habe spontan zugesagt“, sagt Brigitte Grothum, die in Dessau geboren wurde. Sie habe sich gern bereiterklärt zu lesen, weil „ich meine, dass wir eine Verpflichtung dazu haben“. Sie kenne viele Juden, sei mit 40 bis 50 aus der jüdischen Gemeinde in Berlin befreundet. „Ich habe meine Eltern oft gefragt, ob sie nichts davon gewusst haben, wie die Juden in der Nazizeit verfolgt wurden. Schließlich haben sie einen Stern tragen müssen, durften nicht in Restaurants. Meine Eltern sagten, sie hätten es nicht gewusst“, erzählt Brigitte Grothum. Also hätten schließlich auch die nachfolgenden Generationen etwas gutzumachen.

So nimmt sich die Schauspielerin die gute Stunde Zeit in ihrem über 100 Jahre alten Haus in einer stillen Nebenstraße des Berliner Stadtteils Nikolassee, wo sie mit ihrem Mann, einem Orthopäden, wohnt. Kabisch hat ihr den Brief schon zuvor übersandt und man merkt sofort, sie hat sich intensiv damit beschäftigt. Dabei ist sie fast schon auf dem Sprung zu einem Gastspiel in Wiesbaden, bereitet ein Zille-Programm zusammen mit Walter Plathe vor, das im Kudammtheater laufen soll. Und sie arbeitet an ihrem Lieblingsprojekt, dem „Jedermann“, der im Oktober wieder im Berliner Dom zu sehen sein wird.

Briefe von und über Weißenfelser Juden, aus denen gelesen wird.
Briefe von und über Weißenfelser Juden, aus denen gelesen wird.
Birger Zentner Lizenz