Die Spuren führen in der Schillerstraße 15 zusammen
WEISSENFELS/MZ. - Schillerstraße 15 in Weißenfels - es ist ein unauffälliges Haus in einer stillen Nebenstraße im Norden der Stadt. Wer zufällig vorbeikommt, ahnt nicht, dass mit diesem Haus sehr viel Geschichte aus einer der dunkelsten Zeiten Deutschlands verbunden ist. Wer näher herangeht, findet vielleicht im Pflaster der Toreinfahrt die beiden unscheinbaren Steine, die vor einem Jahr als Stolpersteine der Erinnerung an zwei jüdische Weißenfelser Mitbürger gelegt wurden: Emma Murr und Rudolf Murr, umgebracht von der Todesmaschinerie der Nazis.
Eine andere Geschichte dieses Hauses wurde bisher noch nicht vollständig erzählt. In eben diesem Haus, wo Murrs gelebt haben, wohnte auch ein Mann, der möglicherweise ein Kriegsverbrecher ist und an der Liquidierung des Warschauer Ghettos 1943 beteiligt war: Erich Steidtmann. Zumindest geht das aus einem Buch des Verlegers und Autors Joachim Jahns hervor. Noch hat er nicht alles aufgedeckt. Aber das Buch "Der Warschauer Ghettokönig" über den SS-Mann Franz Konrad lässt ahnen, welch brisanter Fall hinter dem Namen Steidtmann aus Weißenfels stecken könnte, der heute als 95-Jähriger nahe Hannover lebt.
Wenn Jahns die Story erzählt, wie er auf die Spur des Mannes gekommen ist, klingt das beinahe kurios, aber vor allem erschreckend. Jahns hat ein Buch der Berlinerin Lisl Urban verlegt, in dem sie ihre Liebe als Gestapo-Schreibkraft zu einem SS- und Polizeiführer im von den Nazis besetzten Prag beschreibt, der auch eine Tochter entstammt. "Der Mann wurde nicht mit Namen genannt, dennoch bekam ich eben von Erich Steidtmann ein Verfahren an den Hals, mit dem das Buch verboten werden sollte", erzählt Jahns. Um sich auf den Prozess vorzubereiten, hat Jahns recherchiert, wer dieser Steidtmann eigentlich ist. Und er kam ihm auf die Spur, wie er im Buch "Der Warschauer Ghettokönig" mehrfach andeutet. Hätte Steidtmann den Mund gehalten, es wäre heute noch ruhig um diese Geschichte.
Nach Jahns Recherchen gehörte Steidtmann zu jenem Polizeibataillon, das 1943 in Warschau stationiert und an der Liquidierung beteiligt war. Außerdem hat er Fotografien gefunden, auf denen Jahns Auffassung nach Steidtmann zu sehen ist: an der Seite des berüchtigten SS-Generals Jürgen Stroop 1943 im Warschauer Ghetto zur Zeit der Liquidierung, der zehntausende Juden zum Opfer fielen.
"Steidtmann bestreitet zwar, zu der Zeit in Warschau gewesen zu sein, aber ich habe Unterlagen, die beweisen, dass er eben genau zu der in Warschau eingesetzten Polizeieinheit als Kompanieführer versetzt worden ist", sagt Jahns. Zudem ist er über Kontakte in
Österreich an Unterlagen gekommen, die klarmachen, dass Steidtmann SS-Offizier war, "was er immer vehement bestritten hat", so Jahns. Steidtmann wurde demnach unter der SS-Nummer 160 812 geführt.
Nach dem Kriegsende hatte es Steidtmann offenbar bestens verstanden, sich zu tarnen. Ab November 1945 arbeitete er laut Jahns im Polizeidezernat der Bezirksregierung Merseburg wieder als Hauptmann der Schutzpolizei, Ende 1946 quittierte er den Dienst und verzog nach Hannover. In seiner Merseburger Zeit hat nach den Recherchen Jahns Steidtmann von der
sowjetischen Besatzungsmacht einmal den Befehl erhalten, nach einem desertierten russischen Offizier zu suchen. Die Aufgabe hat er bestens erledigt. Offenbar mit der Erfahrung vergangener Jahre, denn Steidtmanns Polizeieinheit in Warschau war auch eingesetzt, um den Aufstand von 400 deutschen Deserteuren "zu bewältigen" wie Steidtmann selbst in seiner Strafanzeige gegen den Dingsda-Verlag schreibt. Der Versuch Jahns, mit Steidtmann über dessen Vergangenheit zu reden, wurde "von ihm abgelehnt", so der Autor.
Es fällt wohl in die Kategorie Merkwürdigkeiten, dass zwei so parallele Geschichten mit ein und demselben Haus verbunden sind. Reinhard Schramm, Enkel von Emma und Neffe von Rudolf Murr kann sich nicht erinnern, dass es zwischen den beiden Fällen einen Zusammenhang gibt. "Auch meine Befragungen von ehemaligen Hausbewohnern haben nichts in der Hinsicht ergeben", sagte Schramm auf Nachfrage der MZ. Es ist ein Laune des Schicksals, dass die Spuren in der Schillerstraße 15 zusammenlaufen. Schramm lebt heute in Ilmenau, hat aber die Geschichte der Weißenfelser Juden erforscht und auch publiziert.
Was Jahns im Ghettokönig angedeutet hat, soll in seinem nächsten Buch präzisiert werden, das noch nicht fertiggestellt ist. "Ein deutsches Foto" soll es heißen.
"Der Warschauer Ghettokönig",
Dingsda-Verlag 2009,
ISBN 978-3-928498-99-9