Inklusion oder Vorsicht? Corona und Inklusion: Warum Behindertenwerkstätte im Landkreis im Zwiespalt sind

Weissenfels - Das Telefon hat in den vergangenen Tagen bei Peggy Wagenbrenner noch häufiger geklingelt als sonst. „Die Verunsicherung ist groß“, weiß die Leiterin der Behindertenwerkstätten des gemeinnützigen Trägers Integra Weißenfelser Land GmbH. Ihre wichtigste Nachricht am Telefon: Die Werkstätten werden am Montag wieder geöffnet sein. Anders als in Sachsen und Thüringen gelten diese Einrichtungen für Behinderte als Unternehmen und dürfen deshalb - unter Einhaltung strenger Hygiene- und Abstandsregeln - weiter arbeiten.
Isolation versus Bedürfnis nach sozialen Kontakten und nützlicher Aufgabe
Im ersten Lockdown im Frühjahr 2020 war das noch anders. Nun ist der Zwiespalt nach der verlängerten Betriebsruhe über den Jahreswechsel für die Betroffenen groß. Was überwiegt? Die Freude über wiedergewonnene soziale Kontakte, eine nützliche Tätigkeit, die Stunden ohne Isolation? Oder doch die Angst vor einer Ansteckung?
Rudolf und Rosemarie Schniebel wissen von dieser inneren Zerrissenheit. Tochter Corinna, die an einer frühkindlichen Hirnschädigung leidet, kennt die Behindertenwerkstatt in Leißling, hat dort Vanillestangen für die Hallesche Essig- und Senffabrik eingepackt. „Mir fehlen die Freunde“, sagt die 38-Jährige über die Zeit ohne Werkstatt. An jedem Morgen hat sie sich mit einer Freundin getroffen.
Coronavirus auch um das Heim keinen Bogen - Eltern holen Tochter aus dem Heim
Doch obwohl sie eigentlich wieder in die Werkstatt will, wird sie am Montag weiter zu Hause bleiben. „Ich bin froh, dass Corinna zu Hause ist. Wir haben einfach Angst, dass sie sich doch irgendwie ansteckt“, sagt Rosemarie Schniebel, die sich zusammen mit ihrem Mann noch um einen schwer Behinderten in der Familie kümmert.
Als im vergangenen Jahr das neue Wohnheim der Integra in Weißenfels-West eröffnet wird, zieht auch Corinna dort ein. Ein Schritt in die Zukunft, hin zu mehr Selbstständigkeit. Doch dann macht das Coronavirus auch um das Heim keinen Bogen und die 69 Jahre alten Eltern holen ihre Tochter Mitte Dezember sicherheitshalber zurück in die heimischen vier Wände nach Krauschwitz. Dort haben sie die Feiertage in aller Ruhe verbracht. Mit Ausschlafen, Brettspielen und Märchen gucken.
Werkstatt ist auch eine Art Therapie zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit
Wenn Corinna Schniebel jetzt trotz aller Sehnsucht nach sozialen Kontakten weiter zu Hause bleibt, dann versichert Peggy Wagenbrenner: In solchen besonderen familiären Situationen ist eine Befreiung von der Arbeit in der Werkstatt möglich. Doch sie weiß: „Wir würden in vielen Familien Probleme bekommen, wenn die Werkstätten längere Zeit schließen müssten.“ Dabei meint sie nicht nur die sozialen Kontakte, die Stunden in der Werkstatt seien gerade für viele Betreuer in der Familie eine Entlastung.
Das kann Rudolf Schniebel nur bestätigen. Und der Vater, der seine Tochter jetzt trotzdem lieber zu Hause sieht, sagt: „Die Werkstatt ist auch eine Art Therapie zur Weiterentwicklung der Persönlichkeit.“ Als Vorsitzender des Weißenfelser Vereins Lebenshilfe für geistig behinderte Menschen weiß er nur zu gut, wie sehr den Betroffenen gerade die Gemeinsamkeit fehlt.
Für viele Behinderte ist es ein wichtiger Tag, wenn Werkstätten wieder öffnen
Einmal in der Woche ist er vor Corona mit Behinderten aus verschiedenen Gruppen eine Stunde wandern gegangen. Dieses gemeinsame Erlebnis fehlt gerade ebenso wie andere arbeitsbegleitende Maßnahmen, wie es die Werkstattleiterin nennt. Sommerfest und Weihnachtsfeier sind ebenso weggefallen wie eine Feier zum 30-jährigen Bestehen des Lebenshilfe-Vereins. Und so kann der Zwiespalt an manchen Tagen größer kaum sein. „Uns ging es gut“, sagt Rosemarie Schniebel, wenn sie an die stillen Feiertage zurückdenkt.
Doch wie ist es, wenn sich das Corona-Wintergrau wie Mehltau über den Alltag legt? „Man steht dem Ganzen irgendwie ohnmächtig gegenüber“, gesteht sie. Und ihr Mann fügt hinzu: „Das ist manchmal ziemlich deprimierend.“ Wie sie das aushalten? „Wir denken nur noch von einem Tag auf den anderen“, sagt er. Für viele Behinderte ist der Montag ein wichtiger Tag. Wenn die Werkstätten wieder öffnen. Viele hoffen, dass das so bleibt. (mz)