1. MZ.de
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Weißenfels
  6. >
  7. Burgenlandkreis: Burgenlandkreis: Blinde Musikerin mit festem Platz im Orchester

Burgenlandkreis Burgenlandkreis: Blinde Musikerin mit festem Platz im Orchester

Von HEIKE RIEDEL 27.12.2012, 18:05

GROSSGÖRSCHEN/MZ. - 80 Akkordeons erklingen gemeinsam, wenn Eva Bernhardt ihr Orchester zusammen hat. "Und wenn uns im Freien der Sturm mal die Notenblätter wegpustet, dann spielt mindestens ein Akkordeon noch", sagt die Chefin der vor allem im Südwesten Leipzigs und im Lützener Raum wirkenden Musikschule Fröhlich lachend und lenkt damit die Aufmerksamkeit auf eine Schülerin, die keine Noten braucht.

Kerstin Sauer spielt nur nach Gehör. Denn sie ist blind - schon aufgewachsen, ohne die Welt über die Augen wahrzunehmen. Über ihre Söhne ist sie auf Idee gekommen Akkordeon zu spielen. Diese hat Eva Bernhardt nämlich im Grundschulalter für das Tasteninstrument gewonnen und dabei 1995 ebenso die Mutter begeistert. Denn die kannte Klavier, Akkordeon und Flöte schon aus ihrer Schulzeit, war dann bis zur Wende in der Leipziger Piano-Union Klavierstimmerin gewesen. Heute arbeitet sie als Telefonistin.

Während die Jungen schon seit ein paar Jahren nicht mehr den Unterricht der Musikschule Fröhlich besuchen, sind das Orchester und besonders die Erwachsenengruppe der Bernhard.t.iner fester Bestandteil im Leben von Kerstin Sauer geworden. "Und davon profitieren beide Seiten", hebt Eva Bernhardt hervor. So hat ihre 50-jährige Schülerin die Stufe 5 der Prüfungen des Akkordeonlehrerverbandes erreicht. Sechs gibt es davon.

Das, was ihr Eva Bernhardt in dem kleinen Probenraum bei sich zu Hause in Großgörschen auf Kassette einspielt und dazu an Noten ansagt, schafft Kerstin Sauer Vorlauf. Damit erarbeitet sie sich zu Hause in ihrer Grünauer Wohnung die Grundlagen, um in ihrer Spielergruppe sofort mit einsteigen zu können, wenn die sich neue Noten vornimmt. Zwar können Noten auch ertastbar für Blinde niedergeschrieben werden, doch kommt die Frau am Akkordeon mit diesem System nicht klar.

An Grenzen stoße sie aber auch mit der Umsetzung nach Gehör. Bei Bachs "Jauchzet, frohlocket" steige sie manchmal aus, verrät sie. In einem Orchester mit 80 Spielern falle das aber gar nicht auf, wenn sie da nur so tue, als ob. . . Und auch ihre Mitspieler akzeptierten das.

"Es ist trotzdem bewundernswert, was Kerstin leistet", sagt Madeleine Poltrock. Die 26-Jährige ist über das Akkordeonorchester seit ihrer Kindheit mit dem Problem der Blindheit vertraut geworden. "Eine wichtige Erfahrung" nennt sie das, eine die den Umgang mit behinderten Menschen geschult, Verständnis für deren Situation aufgebaut hat. Sie wisse heute, dass es nicht um Mitleid gehe, Menschen mit einer Behinderung wollten einfach so akzeptiert werden, wie sie sind, und teilhaben an allem, was das Leben so bietet.

Kerstin Sauer nimmt sich tatsächlich nur dann zurück, wenn sie an Grenzen stößt. Sie hat selbst schon auf Anweisung eines Fahrlehrers auf einem speziellen Übungsplatz ein Auto gelenkt. Beim Besuch des Orchesters im Freizeitpark Belantis hat sie keine der scheinbaren Gefahren ausgelassen und sich richtig als Draufgängertyp gezeigt. Inlineskaten steht noch auf ihrer Wunschliste, wenn ihr jemand dazu die passenden Bedingungen, sprich freie Wege, bieten kann.

Wenn das Orchester unterwegs ist zu Auftritten oder Probelagern, dann bekommt die Übermütige nach "Dienstplan" einen Paten oder eine Patin zugeteilt, um sich in der fremden Umgebung zurechtzufinden. In der heimischen Umgebung helfen ihr und ihrem hochgradig sehschwachem Mann ein Blindenhund und der Langstock zum Ertasten der Hindernisse. Im Orchester braucht die Blinde die Hilfe anderer Mitglieder. Allerdings nur wenig, wenn es ihr gelingt, die ganze große Mannschaft dorthin zu lenken, wo sie sich auskennt. Zum Beispiel ins Heim für Blinde- und Sehschwache nach Rochlitz. Dort kennt sie sich aus.

Als sie während des alljährlichen Probelagers nach einem Ausflug mit den anderen aber dort mal einer vermeintlichen Abkürzung wegen mit der Gruppe vom gewohnten Weg abkam und man dann zwar nahe dem Ziel, aber mitten im Wald an einem steilen Abhang stand, waren alle hilflos. Egal, das Ziel wurde anvisiert - allerdings konnten sie und ihre Helfer sich kaum auf den Beinen halten. Kerstin Sauer stürzte, alle erschraken, doch die Frau mit dem Handikap lachte laut und rollte den Hang hinab, bis sie unten der Graben auffing. Auf die Frage nach blauen Flecken antwortete sie nur: "Die seh' ich doch nicht."

Wie es ihr in solchen Situationen ergeht, konnten ihre Begleiter später nachempfinden. Denn sie hatten sich auf das Abenteuer der zeitweisen Ausstellung "Dialog im Dunkeln" in Leipzig eingelassen. Dort ging es für die Sehenden in Fünfergruppen geführt von einem Blinden und ausgerüstet mit dem weißen Stock ins völlig Schwarze - über Treppen, durch ein Waldstück mit Vogelgezwitscher und Wasserrauschen, über eine Holzbrücke, über befahrene Straßen, Ampelanlagen und einen Marktplatz. "Dort im Dunkeln haben sich alle um mich gedrängelt", erinnert sich Kerstin Sauer kichernd. Obwohl in der Bar am Ende ebenso jegliches Licht fehlte, mit 30 Mann kehrte sie dann dort noch ein. Bei allem Spaß dieses Tages war er den Sehenden doch wichtige Lehre und hat sie noch mehr mit ihrer Kerstin verbunden.