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Schicksal aus Mansfeld-Südharz Schicksal aus Mansfeld-Südharz: "Ich bin nicht nur die Kranke"

Von Beate Thomashausen 15.10.2015, 08:49
Lysann Reitmann blättert in einem ihrer Alben. Teilweise wirken diese wie eine Krankenakte. Die junge Frau will aber auf keinen Fall über ihre Krankheiten definiert werden.
Lysann Reitmann blättert in einem ihrer Alben. Teilweise wirken diese wie eine Krankenakte. Die junge Frau will aber auf keinen Fall über ihre Krankheiten definiert werden. Ralf Kandel Lizenz

Sangerhausen - Lysann Reitmann hat es sich in der Couchecke bequem gemacht. Ihre Eltern Kathrin und Holger Reitmann sitzen neben ihr. Auf dem Couchtisch liegen dicke Fotoalben. Die Fotos zeigen die heute 26-jährige Lysann als Baby. Lysann als kleines Mädchen. Lysann als Schulkind. Lysann als Teenager. Alles ganz normal. Nur die Orte, an denen sich all diese kleinen Dinge jeweils ereignen, sind nicht immer normal, denn meist erkennt man ein Krankenhaus als Hintergrund. Und trotzdem spiegeln sie Lysann Reitmanns ganz normalen Alltag wider.

Leider. „35 oder 40 Operationen hat sie in ihrem jungen Leben schon hinter sich gebracht“, ganz genau weiß das der Vater Holger Reitmann nicht. Er weiß nur, es sind viel zu viele für ein Menschenleben und dass er dieses Schicksal seinem Kind nur zu gern ersparen möchte. „Vorige Woche wurde sie ja schon wieder operiert. Und es wird nicht das letzte Mal gewesen sein.“

Der Skispringer Paul Winter hat wohl seinen größten Fan in Brücken. Seitdem der junge Mann aus Riestedt dem „Schanzenfloh-Alter“ entwachsen ist, verfolgt Lysann Reitmann mit großem Interesse die sportliche Karriere des jungen Mannes und drückt bei jedem Wettbewerb die Daumen. Dass sie bei allen Übertragungen von Skisprungwettbewerben vor dem Fernseher zu finden ist, versteht sich von selbst. Einer ihrer größten Wünsche für die nächste Zeit ist es, einen Fanclub - und zwar den ersten - für Paul Winter ins Leben zu rufen.

Wie für alle jungen Leute hat Musik auch für Lysann Reitmann etwas magisch Anziehendes. Sie fühlt sich ganz besonders von der Musik der Band „Staubkind“ - der bekannteste Titel heißt „Wunder“ - angesprochen. Den jüngsten Auftritt der Berliner Rock- und Pop-Band im Oktober, für den sie schon Karten hatte, musste sie allerdings wegen ihres Krankenhausaufenthaltes sausen lassen.

Erste Diagnose

Angefangen hat alles mit der ersten Hirnhautentzündung im Babyalter. Als ob eine Hirnhautentzündung für ein Baby nicht schon schlimm genug wäre, folgten weitere. Die kleine Lysann brachte eine ganze Krankenhausodyssee hinter sich. Und dann schien die Kleine ständig Fließschnupfen zu haben. Die Eltern waren besorgt. Suchten immer wieder Ärzte auf, solange, bis es hieß, sie seien überbesorgt und müssten sich mal psychologisch behandeln lassen. „Das haben wir natürlich getan. Allerdings hat es keinem geholfen, denn Lysann ist schließlich tatsächlich krank“, sagt die Mutter rückblickend. Klar wird das auch dem Letzten, dass die Eltern recht damit haben, sich mehr als üblich, um ihr Kind zu sorgen, als Lysann 1992 im Urlaub in Tschechien schwer krank wurde. Wieder eine Hirnhautentzündung. Die besorgten Eltern machten sich mit ihrem Kind auf den Weg in die Klinik nach Halle, dorthin, wo ihr Kind bisher behandelt wurde. Dass das, was ständig aus der Nase des Mädchens lief, nichts mit Schnupfen zu tun hat, erfuhren die Eltern wenig später bei einer Feinuntersuchung in Jena. Bei der Flüssigkeit handelte es sich nämlich um Hirnwasser. Lysanns Krankheit hat von da an einen Namen: Rhinoliquorrhoe. Das bedeutet nichts anderes, als dass durch einen Spalt ständig Hirnwasser austreten kann. Und Keime eintreten, was die vielen Hirnhautentzündungen erklärt. Den Spalt zu verkleben und damit das ständig austretende Hirnwasser zu stoppen, war nun erklärtes Ziel der Ärzte.

Operationen helfen nicht

Der Eintrag der Eltern im Fotoalbum des damals kleinen Mädchens lautet: „15.10.92 Überweisung nach Göttingen/ 26.11.92 OP 8 Uhr bis 16.30 Uhr/ Defekt in Bohnengröße vom Neurochirurgen mehrfach verklebt/ 8 Tage auf der Intensivstation und ständiges Naselaufen beobachtet.“ Im September 1992 wird die Kleine zum ersten Mal am Kopf operiert. Man will den Spalt schließen, durch den das Hirnwasser austritt und durch den jederzeit Keime eintreten können. Der Eingriff ist schwer, hilft aber leider nicht. Aus Lysanns Nase läuft weiterhin Hirnwasser. Bis heute übrigens. Tag für Tag. „Ich habe deshalb immer Zellstoff in der Hand, denn es kann ganz plötzlich passieren“, erklärt sie.

Welche weiteren Diagnosen die junge Frau noch erwarteten, lesen Sie auf Seite 2.

Damit endet die Krankenakte längst nicht. Es kommen immer neue Diagnosen hinzu: Polyostotische Fibröse Dysplasie heißt eine davon. Das bedeutet, dass Lysanns Knochengewebe nicht so dicht ist wie normalerweise und bruchgefährdet. Es ist mittlerweile so schlimm, dass sie nicht einmal Nüsse essen darf, weil die Gefahr besteht, dass dadurch ihr Kiefer bricht. Die junge Frau berichtet davon, als wäre es die normalste Sache der ganzen Welt. Ohne Mitleid haben zu wollen, einfach nur, um zu erklären, weshalb sie sich so verhält, wie sie es eben tut. Ein bisschen vorsichtiger als andere eben. Etwas achtsamer mit dem eigenen Körper. Das musste sie schließlich schon zeitig lernen.

So sein wie die anderen

Wie ein rohes Ei hätte die Mutter am liebsten ihr Kind behandelt. Wenn es hinausflitzte, um so zu sein wie die anderen, hätte sie sie am liebsten zurückgehalten. Und natürlich auch wieder nicht, denn natürlich sollte Lysann so sein wie alle anderen auch. Dabei durfte sie eigentlich weder springen noch klettern, noch baden. Einfach alles nicht, was Kinder gerne tun. Mutter Kathrin Reitmann erinnert sich noch genau an die eine Situation, als eine andere Mutter ihr Kind von Lysann wegzog, weil es womöglich krank werden könnte. Das kleine Mädchen war der Freak. Der Außenseiter, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte.

Der Skispringer Paul Winter hat wohl seinen größten Fan in Brücken. Seitdem der junge Mann aus Riestedt dem „Schanzenfloh-Alter“ entwachsen ist, verfolgt Lysann Reitmann mit großem Interesse die sportliche Karriere des jungen Mannes und drückt bei jedem Wettbewerb die Daumen. Dass sie bei allen Übertragungen von Skisprungwettbewerben vor dem Fernseher zu finden ist, versteht sich von selbst. Einer ihrer größten Wünsche für die nächste Zeit ist es, einen Fanclub - und zwar den ersten - für Paul Winter ins Leben zu rufen.

Wie für alle jungen Leute hat Musik auch für Lysann Reitmann etwas magisch Anziehendes. Sie fühlt sich ganz besonders von der Musik der Band „Staubkind“ - der bekannteste Titel heißt „Wunder“ - angesprochen. Den jüngsten Auftritt der Berliner Rock- und Pop-Band im Oktober, für den sie schon Karten hatte, musste sie allerdings wegen ihres Krankenhausaufenthaltes sausen lassen.

Mutter Kathrin Reitmann ist bis heute deutlich anzumerken, wie weh ihr das tut, dass ihr Kind nicht „normal“ sein kann. Sie hat erlebt, wie ihr Kind sich als Erstklässlerin den Oberschenkel brach, lange im Bett lag und dann quasi im Bett eine Refraktur erlitt. „Lysann hat immer gekämpft. Auch in solchen Situationen“, sagt der Vater stolz. „Sie ist immer wie Phoenix aus der Asche wieder aufgestanden.“ Zwei Jahre hat das in diesem Fall gedauert, bis Lysann wieder auf eigenen Beinen stand.

Zwei Schuljahre lang im Bett

Die erste und zweite Klasse absolvierte Lysann praktisch im Krankenbett daheim. Die Lehrerin kam zu ihr nach Hause und hat ihr den Lehrstoff gebracht, hat Tests mit ihr geschrieben, und sogar Liedkontrollen gab es im Hause Reitmann. Kathrin Reitmann ist der Grundschullehrerin noch heute dankbar für die Unterstützung. So wie die Reitmanns sich über jeden Menschen freuen, der Lysann dabei hilft, so normal wie möglich zu leben. Sei es der ältere Sohn und Bruder, für den Lysann einfach nur seine Schwester ist. Sei es die freundliche Kinderärztin im Sangerhäuser Krankenhaus, die sich in ihren Fall hineinfuchste und der Familie stets zur Seite stand. Sei es jetzt auf der Arbeitsstelle und dort vor allem ihr direkter Vorgesetzter, der trotz der immensen Fehltage Lysann Reitmann für eine unverzichtbare Arbeitskraft hält und sie nicht wie eine Außenseiterin behandelt. Denn genau als das empfindet sich Lysann Reitmann nur allzu oft - als Außenseiterin.

Warum Lysann Reitmann nach einer OP ins Koma fiel, lesen Sie auf Seite 3.

Dieses Jahr habe seine Tochter wieder eine sehr schwere Zeit hinter sich mit sehr vielen Krankenhausaufenthalten, sagt der Vater. Um ihr das Atmen zu erleichtern, sollte das Wasser aus den Lungen gezogen werden. Nach der Operation ging es Lysann jedoch schlecht. Sie klagte über Bauschmerzen. „Niemand hat aber ihre Beschwerden ernst genommen“, beklagt sich der Vater. Es kommt Herzstillstand. „Lysann hatte drei Liter Blut im Bauchraum, da in ihrem Inneren bei der Operation etwas verletzt wurde.“

Kein Ende der Tortur

Nach einer Woche künstlichem Koma wurde Lysann Reitmann wieder zurück ins Leben geholt. Doch die Tortur war noch nicht zu Ende. Nicht alles Wasser war aus dem Brustraum gezogen worden. Es musste wieder operiert werden. Drainagen wurden gelegt. „Aber ich konnte wieder atmen“, sagt die junge Frau pragmatisch. Und anders kann sie ihren Leidensweg auch nicht sehen. Denn erst vor wenigen Tagen wurden sie jetzt nach neuen Operationen und langem Krankenhausaufenthalt wieder nach Hause entlassen.

Der Skispringer Paul Winter hat wohl seinen größten Fan in Brücken. Seitdem der junge Mann aus Riestedt dem „Schanzenfloh-Alter“ entwachsen ist, verfolgt Lysann Reitmann mit großem Interesse die sportliche Karriere des jungen Mannes und drückt bei jedem Wettbewerb die Daumen. Dass sie bei allen Übertragungen von Skisprungwettbewerben vor dem Fernseher zu finden ist, versteht sich von selbst. Einer ihrer größten Wünsche für die nächste Zeit ist es, einen Fanclub - und zwar den ersten - für Paul Winter ins Leben zu rufen.

Wie für alle jungen Leute hat Musik auch für Lysann Reitmann etwas magisch Anziehendes. Sie fühlt sich ganz besonders von der Musik der Band „Staubkind“ - der bekannteste Titel heißt „Wunder“ - angesprochen. Den jüngsten Auftritt der Berliner Rock- und Pop-Band im Oktober, für den sie schon Karten hatte, musste sie allerdings wegen ihres Krankenhausaufenthaltes sausen lassen.

Die Kranke zu sein, nervt sie nicht nur, es ist schon viel mehr. Die Kranke zu sein, bedeutet für sie vor allem eins: Einsamkeit. „Ich kann nicht mal eben schnell zu einer Freundin düsen. Hundert Meter Fußweg sind meist eine Riesenstrapaze für mich.“ Also sitzt die junge Frau allein daheim in der Couchecke. Immer in der Hoffnung, dass sich doch mal jemand meldet, bei ihr reinschaut. „Ich bin doch mehr als nur meine Krankheit“, findet sie. „Ich bin Lysann, ein Mensch, eine Frau. Aber das verschwindet alles hinter der Kranken.“

Ende der Einsamkeit

Natürlich möchte sie gern Kontakte pflegen. Vielleicht sogar mit Menschen, die eine ähnliche Krankengeschichte haben. Die Wahrscheinlichkeit ist gering, denn ihr Fall sehr speziell. Trotzdem wäre es schön, wenn da draußen jemand wäre, der sie und ihre Leidensgeschichte ohne große Worte versteht. Sei es, weil er sie teilt, sei es, weil er sehr empathisch ist. Auf jeden Fall ist die 26-Jährige es leid, allein in der Sofaecke zu hocken. Dass sie auf diesem Sitzplatz bestehen muss, hat mit ihren bislang letzten Operationen zu tun. Seither kann sie ihren Kopf nicht richtig halten. „Was will ich machen“, sagt sie. „Es ist, wie es ist.“ Nur die Einsamkeit, die möchte sie nicht mehr akzeptieren. (mz)

Lysann Reitmann sucht auch Kontakte zu Selbsthilfegruppen oder Menschen mit ähnlichem Schicksal, aber auch Experten in Sachen Fibröse Dysplasie - Ärzte ebenso wie Betroffene. Wer mit ihr Kontakt aufnehmen möchte, wird gebeten, sich bei der MZ-Lokalredaktion unter 03464/54 40 61 50 zu melden.