Kritik im Internet am Wahlsieg der AfD Kritik im Internet am Wahlsieg der AfD: Sangerhäuserin schämt sich für Heimatstadt

Sangerhausen - 27.000 Klicks im Netz, mehr als 200 Gefällt-Mir-Angaben bei Facebook, unzählige Kommentare: „Sangerhausen, ich schäme mich“, dieses klare Bekenntnis einer gebürtigen Sangerhäuserin, verfasst am Morgen nach der Landtagswahl, sorgt derzeit in den sozialen Netzwerken für Aufregung. Marie Luise R. (vollständiger Name der Redaktion bekannt) ist hier, in der Rosenstadt aufgewachsen. Dass die Alternative für Deutschland ausgerechnet dort mehr als 30 Prozent der Erststimmen gewinnt, hat die junge Frau, die jetzt in Hamburg lebt, schockiert.
Marie R. machte 2010 ihr Abitur am Geschwister-Scholl-Gymnasium. Erste journalistische Erfahrungen konnte sie bereits während eines Schülerpraktikums bei der Mitteldeutschen Zeitung sammeln. Schreiben sei schon immer ihr großes Hobby gewesen, das sie zum Beruf machte, schildert sie. Mit einem selbstverfassten Drehbuch konnte sie bereits während einer Schulzeit den „Com.mitAward“ des Fernsehsenders RTL gewinnen. In Hannover studierte sie Journalistik und ist nun als selbstständige Socialmedia-Beraterin in Hamburg tätig. Auf ihrem Blog „luiseliebt“ und auf ihrem Youtube-Kanal berichtet sie über Mode, Fitness, mediale Entwicklungen und politische Themen.
Als Mitarbeiterin der Mitteldeutschen Zeitung kletterte Marie Luise 2011 auf die Halde „Hohe Linde“ in Sangerhausen. Begleitet wurde sie damals von Oberbürgermeister Ralf Poschmann (CDU), mit dem sie über die Stadt und ihre Zukunft sprach. Die Eindrücke, die Ritter aufschrieb, waren durchaus positiv. Sangerhausen sah sie als Stadt im Aufschwung. Jungunternehmer plauderten mit ihr über ihre Hoffnungen, die sie vor allem an den Industriepark Mitteldeutschland knüpften, dessen Bau noch nicht begonnen wurde. (lwö)
Der Beitrag „Ich schäme mich“ im Netz auf auf www.luiseliebt.de
Stellung beziehen
Schrecken, Unverständnis, Wut - ihre Gefühle hat sie in ihrem persönlichen Webblog aufgeschrieben. Um ihrem Ärger Luft zu machen, sagt sie, und um Stellung zu beziehen gegen rechtspopulistische Positionen. „Ich schäme mich nicht für Sangerhausen, meine Heimatstadt“, sagt R.. „Ich schäme mich, dass gerade dort solche menschen- und frauenverachtenden Thesen, wie sie die AfD vertritt, so großen Zuspruch finden. Damit hätte ich nicht gerechnet.“ Ihre Vorstellung von einem weltoffenen, bunten Sangerhausen habe am Wahlabend Risse bekommen, schildert die Bloggerin. Lange Zeit hatte sie die AfD nicht ernst genug genommen. „Ich sah im Netz immer nur Contra“, schreibt sie. „Dachte mir, die meisten sind sowieso dagegen. Doch scheinbar wurden diese Stimmen übertönt.“ Diejenigen, die ihren Beitrag kommentiert haben, pflichten ihr bei. „Du sprichst mir aus der Seele. Ich kann es nicht verstehen“, äußert sich eine Frau. „Ein Text, der in die Zeitung gehört, um den AfD-Wählern ihr Versagen zu zeigen“, meint ein Nutzer.
Reaktionen im Netz
Doch es gibt auch andere Stimmen: „Akzeptier das Wahlergebnis, das Volk hat gesprochen“, wettert jemand bei Facebook und andere greifen die Autorin persönlich an: „Gut, dass so ein Gutmensch wie du nicht mehr in Sangerhausen lebt“, heißt es in einem Kommentar. R. lässt das kalt. Der 24-Jährigen war klar, dass sie mit ihrem Beitrag einen sensiblen Punkt treffen würde. Rückhalt gibt es unterdessen aus dem Geschwister-Scholl-Gymnasium: Im Netz lobt Schulleiter Jens Peter den Text; fragt, ob er ihn im Unterricht aufbereiten kann. Auch er findet deutliche Worte für AfD-Wähler. Die ehemalige Schülerin habe mit ihrer Kritik ins Schwarze getroffen, sagt er. „Sangerhausen, ich schäme mich“ ist mittlerweile in ausgedruckter Form in den Fächern aller Lehrer gelandet und hat auch unter den Schülern Verbreitung gefunden. Jeder soll sehen, dass auch Peter eine klare Linie verfolgt, wenn es um rechtes Gedankengut geht. Darf ein Schulleiter das? Die eigene Meinung scheinbar unter den Schülern verbreiten? „Wenn wir nur noch fragen, was erlaubt ist, macht irgendwann niemand mehr den Mund auf“, stellt Peter klar. „Es ist Zeit, dass wir als Schule Farbe bekennen.“
Was Schulleiter Jens Peter mit dem Beitrag bezweckt, lesen Sie auf Seite 2.
Am Wahlabend hat er lange auf Facebook gestöbert und die Reaktionen auf den AfD-Sieg verfolgt. Immer wieder tauchten in den Debatten auch die Namen von Schülern und Ehemaligen auf, die sich ganz im Sinne von Marie Luise R. äußerten. Für den Schulleiter war das, wie er erklärt, die Bestätigung für sein Tun: Mit ihrem Beitrag will er Schülern und Kollegen einen Denkanstoß geben; ihnen zeigen, wie politische Entwicklungen hinterfragt werden können. „Ich muss mich vor niemandem rechtfertigen“, so der 49-Jährige. „Ich bin mir sicher, dass die Mehrheit am Schollgymnasium hinter mir steht.“ Damit könnte er durchaus recht haben: Mehrere Schulmitarbeiter und Jugendliche haben noch am Wahltag bei Facebook ihrem Entsetzen Luft gemacht und bei einer anonymen MZ-Umfrage in der zwölften Klasse zwei Wochen vor der Wahl gab niemand an, die AfD zu unterstützen. Doch was ist mit jenen Schülern, die vielleicht doch mit dieser Partei sympathisieren? Wie will sich der Schulleiter ihnen gegenüber verhalten? „Jeder darf natürlich am Scholl ohne Bedenken seine Meinung äußern“, sagt er. „Diskussion ist hier das beste Mittel. Ich kenne meine Schüler, sie sind klug genug, um reißerische Parolen kritisch zu hinterfragen. Das macht mich stolz.“
Marie R. machte 2010 ihr Abitur am Geschwister-Scholl-Gymnasium. Erste journalistische Erfahrungen konnte sie bereits während eines Schülerpraktikums bei der Mitteldeutschen Zeitung sammeln. Schreiben sei schon immer ihr großes Hobby gewesen, das sie zum Beruf machte, schildert sie. Mit einem selbstverfassten Drehbuch konnte sie bereits während einer Schulzeit den „Com.mitAward“ des Fernsehsenders RTL gewinnen. In Hannover studierte sie Journalistik und ist nun als selbstständige Socialmedia-Beraterin in Hamburg tätig. Auf ihrem Blog „luiseliebt“ und auf ihrem Youtube-Kanal berichtet sie über Mode, Fitness, mediale Entwicklungen und politische Themen.
Als Mitarbeiterin der Mitteldeutschen Zeitung kletterte Marie Luise 2011 auf die Halde „Hohe Linde“ in Sangerhausen. Begleitet wurde sie damals von Oberbürgermeister Ralf Poschmann (CDU), mit dem sie über die Stadt und ihre Zukunft sprach. Die Eindrücke, die Ritter aufschrieb, waren durchaus positiv. Sangerhausen sah sie als Stadt im Aufschwung. Jungunternehmer plauderten mit ihr über ihre Hoffnungen, die sie vor allem an den Industriepark Mitteldeutschland knüpften, dessen Bau noch nicht begonnen wurde. (lwö)
Der Beitrag „Ich schäme mich“ im Netz auf auf www.luiseliebt.de
Keine kritischen Äußerungen zu politischen Entscheidungen
Dass sich einige Jugendliche vom Programm der AfD angesprochen fühlen, will Peter auch für sein Gymnasium nicht ausschließen. Doch er ist sich sicher: Sie sind in der Unterzahl. „Diejenigen, die sich bisher online oder in der Schule geäußert haben, teilen meine Position zu dieser Partei“, sagt er. Jens Peter ist Beamter, muss also gegenüber seinem Arbeitgeber, dem Land Sachsen-Anhalt, Loyalität wahren und darf sich nicht kritisch zu politischen Entscheidungen äußern. Das tut er, wie er findet, in diesem Fall nicht. Durch die Verwendung und Besprechung des Beitrags bezieht er, wie er findet, bloß Stellung zu einer Entwicklung aus der Bevölkerung. „Wir wollen unsere Schüler zu Weltoffenheit und Courage erziehen“, stellt er klar. „Das sind Werte, die die AfD aus meiner Sicht nicht vertritt.“ Das Scholl trage den Titel „Schule ohne Rassismus“ und der müsse auch durch Taten gerechtfertigt sein. „Bei uns lernen Kinder, die direkt von Flucht und Vertreibung betroffen sind“, so Peter. „Auch ihren Familien bin ich es schuldig, dass wir uns zur Vielfalt bekennen und eine klare Linie fahren.“
Sicht auf Sangerhausen
In ihrem Beitrag zitiert R. mehrfach aus dem Wahlprogramm der Landes-AfD. Sie denkt an ihre Großmutter, die 1945 selbst flüchten musste, und fragt sich, warum Menschen in deren Alter ihre Stimme der AfD geben. „Meine Oma bewundert mich für Chancen, die ich als junges Mädchen hatte und die es für sie nicht gab“, schreibt sie. „Alle scheinen froh, über die Entwicklungen der letzten Jahre. Warum wird dann jetzt gehetzt?“ Das Urteil der gebürtigen Sangerhäuserin ist niederschmetternd: „Sangerhausen hielt ich immer für eine Stadt im Aufbruch, für ein positives Beispiel, wie sich ein Kleinstadt nach der Wende gemausert hat“, sagt sie. Doch jetzt sieht sie klarer; erkennt die Rosenstadt als Ort, an dem 30 Prozent der Bevölkerung eine Perspektive suchen und diese in der AfD erkennen wollen. „Aus Angst und weil sie sich von irgendetwas bedroht fühlen“, sagt sie. Marie Luise R. wird bald wieder ihre Familie in Sangerhausen besuchen, doch vieles wird sie dann mit anderen Augen sehen. Sie schämt sich für das Wahlergebnis. (mz)