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30 Jahre Wende  30 Jahre Wende : Wie DDR-Bürger mit Eingaben ihren Unmut Luft machten

Von Beate Thomashausen 11.10.2019, 11:10
Der Demonstrationszug in Sangerhausen im Dezember 1989.
Der Demonstrationszug in Sangerhausen im Dezember 1989. Steffen

Sangerhausen - „Wenn sich das nicht ändert, dann mache ich eine Eingabe!“ Das war die ultimative Drohung eines DDR-Bürgers gegenüber einer Behörde. Eine Eingabe machen. Das hieß, dass man sich mit einer schriftlichen oder mündlichen Beschwerde an eine übergeordnete Behörde wendete.

Und wenn man es ganz ernst meinte, dann adressierte man seine Eingabe ans ZK, also ans Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED), oder an den Staatsrat.

An noch höhere Stellen konnte sich ein DDR-Bürger nicht wenden mit seinen Beschwerden. Man konnte es aber auch erstmal im Guten und mit Eingaben direkt bei den Städten und Gemeinden oder beim Kreis versuchen. Wer eine Eingabe schrieb, war oft schon seit Jahren auf der Suche nach Wohnraum. Oder brauchte dringend Baumaterial oder, oder, oder.

Mit Wahlboykott gedroht

Es gab eine Menge Gründe, weshalb DDR-Bürger völlig zu Recht eine Eingabe schrieben und um Hilfe baten, denn der Mangel in der DDR war allerorten spürbar. Viele Eingaben betrafen die Versorgung in den Läden. Die Straßenbeleuchtung und die Müllabfuhr in Sangerhausen waren ebenfalls Eingabegründe.

Die Eingaben der Bürger aus dem Kreis Sangerhausen wurden so wie alles in der gesamten DDR akribisch erfasst. Dennoch: Abhilfe wurde selten geschaffen. Es sei denn, eine Wahl stand ins Haus, dann konnte der DDR-Bürger, wenn er besonders mutig war oder sowieso nichts mehr zu verlieren hatte, auch damit drohen, nicht zur Wahl zu gehen. Eingaben in einem Wahljahr erschienen aussichtsreicher als sonst.

1989 war ein Wahljahr in der DDR. Das nutzten auch die Bürger im Kreis Sangerhausen, um ihrem Unmut per Eingabe Luft zu machen, in der Hoffnung, dass sich daraufhin etwas an ihrer Situation ändern würde.

Wir sind an Ihren Geschichten, Erinnerungen und Erlebnissen interessiert. Was ist Ihnen besonders im Gedächtnis geblieben? Kennen oder kannten Sie Leute, die in den Westen geflüchtet sind? Was haben Sie empfunden? Haben Sie sich an Protestaktionen beteiligt? Welche Gedanken bewegten Sie? Hatten Sie Angst?

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Allein vom 26. Januar bis zum 7. Mai 1989, dem Wahltag, waren es 493 Eingaben. Zumeist verknüpft mit der Drohung, nicht wählen zu gehen, wenn sich nichts an dem jeweils kritisierten Zustand ändere.

Zahlreiche Gründe für Eingaben

Mit den Beschwerdeführern wurden dann persönliche Gespräche durch Mitglieder des Rates des Kreises, Bürgermeister, Stadtverordnete, Betriebsleiter und Wahlhelfer geführt und: „Sie wurden darauf aufmerksam gemacht, daß sie sich durch eine Wahlverweigerung keine Vorteile gegenüber anderen Bürgern erwirken können“, heißt es dazu in Dokumenten des Kreisarchives.

890 Eingaben wurden im Zeitraum vom 1. Januar 1989 bis zum 30. September 1989 im damaligen Kreis Sangerhausen eingereicht, davon 348 mündlich, heißt es in den Dokumenten des Rates des Kreises, die im Kreisarchiv liegen.

58,8 Prozent der Eingaben seien nach Einschätzungen der Behörden damals Vorschläge, Hinweise und Anliegen gewesen. Immerhin 41,2 Prozent mussten aber als Beschwerden registriert werden. Kritisiert und bemängelt wurden in den Eingaben der Bürger die Bereitstellung von Baumaterialien und notwendige Reparaturen an Dächern und Schornsteinen.

Eingaben gab es, weil die Verkaufsstellen Waren des täglichen Bedarfs nicht führten. 39 Eingaben gingen in jenem Jahr aus Sangerhausen beim Staatsrat in Berlin ein, wurden aber von dort auch nur wieder nach unten delegiert.

In 24 Fällen sei es um wohnungspolitische Fragen gegangen.Übrigens adressierten vier Bürger ihre Eingabe direkt ans ZK. Ob sie dadurch Probleme mit den staatlichen Behörden bekamen? Darüber schweigen die Verfasser der damaligen Ratsdokumente. (mz)

Die Staatsführung wurde vom Volk hart kritisiert.
Die Staatsführung wurde vom Volk hart kritisiert.
Steffen
Der Protest ging durch alle Bevölkerungsschichten und durch alle Generationen. Das gesamte Land war unzufrieden.
Der Protest ging durch alle Bevölkerungsschichten und durch alle Generationen. Das gesamte Land war unzufrieden.
Wolfgang Steffen