30 Jahre Wende 30 Jahre Wende : Kreis-Verwaltung war über DDR-Mangelwirtschaft bestens informiert

Sangerhausen - Im Frühherbst vor 30 Jahren schien die Welt in der Deutschen Demokratischen Republik noch in Ordnung. Liest man die Berichte, die damals beim Rat des Kreises in Sangerhausen eingingen, dann scheint es kleinere Probleme gegeben zu haben, die aber noch lösbar waren.
Doch sie waren es längst nicht mehr. Die Bürger waren unzufrieden. Dokumente im Kreisarchiv zeigen: Es wurde nur noch der Mangel verwaltet. Doch man verschloss die Augen vor der Wahrheit und beschönigte die Zustände.
Probleme nicht abgearbeitet
Exemplarisch für die Auswirkungen der Mangelwirtschaft steht die Stanzerei in Kelbra. Der Rat des Kreises nimmt in seiner Sitzung am 21. Juni 1989 himmelschreiende Zustände zu Protokoll.
Die „Probleme wurden nicht abgearbeitet, sondern verschärften sich massiv“, heißt es. Offensichtlich war der Lkw, der in der Stanzerei für innerbetriebliche Transporte genutzt wurde, so marode, dass er außer Betrieb genommen werden musste. Ersatz gab es nicht.
Daraus resultierten „erhebliche innerbetriebliche Transportprobleme“, heißt es im Bericht an den Rat des Kreises. Im Klartext: Die Arbeiter mussten Stahlplatten nun von Hand schleppen. Außerdem gab es einen Arbeitsunfall, so dass man konstatierte, dass „die Aufrechterhaltung der betrieblichen Reserve“ infrage gestellt werden müsse.
Ähnlich desolat war die Lage im Großhandelsbetrieb Allstedt. Als Egon Krenz am 18. Oktober 1989 die Staatsführung übernommen hatte, schwärmten überall im Land die Funktionäre aus zum Gespräch mit den Werktätigen in den Betrieben. „Dialog“ war das Schlagwort - und das auf allen Ebenen.
Planerfüllung nur auf dem Papier
Die Chefin der Sangerhäuser SED-Kreisleitung fährt nach Allstedt und die „Freiheit“ berichtet, dass in der großen Lagerhalle wegen eklatanter Baumängel bei Nässe der Schlamm auf dem Boden steht, dass den Frauen Hubwagen und Gabelstapler zum Transport der Waren fehlen.
In dem Artikel wird auch klar, wie das Schönreden der Versorgungslage funktionierte: Vom reinen Warenumschlag her hatte der Betrieb den Septemberplan mit 100,1 Prozent übererfüllt. Doch leider nicht bedarfsgerecht, wie der Betriebsleiter jetzt berichtet.
Um fast eine Million Mark sei die Produktion bei den geplanten Lieferungen im Rückstand. Und was nicht hergestellt wurde, das könne man auch nicht verkaufen, stellt der Chef trocken fest.
Von solcher Offenheit war man bei der Kreistagssitzung am 6. September 1989 noch weit entfernt. Im Bericht vom Rat des Kreises hörten in der Mammutveranstaltung die 130 Kreistagsmitglieder, die Vorsitzenden der Parteien und Massenorganisationen, die Bürgermeister der Städte und Gemeinden, Leiter der Betriebe und Einrichtungen sowie LPG-Vorsitzenden, dass bis Ende August der Plan bei Fertigerzeugnissen für die Bevölkerung mit 103,3 Prozent übererfüllt wurde. Mit Volldampf ging es voran im Wettbewerb zum 40. Jahrestag der DDR.
Engpässe bei alltäglichen Waren
Intern, in den 14-täglichen Sitzungen beim Rat des Kreises, schimmerten schon eher die Probleme durch. Keine Störungen bei der Versorgung mit Frischwaren im Landkreis, konstatierte zwar die Abteilung Handel und Versorgung noch im Mai 1989.
Allerdings räumten die Genossen zumindest zeitweilige Engpässe bei Käse, Nudeln und Mayonnaise ein, ebenso waren Backmischungen und Hülsenfrüchte Mangelware. Auch Sekt und Bier konnten nicht bedarfsgerecht geliefert werden.
In der Sitzung am 30. August 1989 wird beim Rat des Kreises im Protokoll notiert: Spitzenbier, Spezialbier, Tonic und Cola seien „noch nicht im ständigen Angebot“. Bei Dauerbackwaren spitze sich die Lage zu und Kondensmilch sei nur „schleppend im Angebot“.
Lieferrückstände gab es auch bei Damenkonfektion, Untertrikotagen, Schuhen und Miederwaren. Kindersportwagen werden ebenfalls bei jenen Erzeugnissen aufgeführt, die es nicht einfach so zu kaufen gab.
Gut Miene zum bösen Spiel
Nach außen hin wird zunächst aber noch der Schein gewahrt, dass alles in Ordnung sei. 1.000 Jugendliche aus dem Kreis Sangerhausen nehmen am Pfingsttreffen der Freien Deutschen Jugend (FDJ) in Berlin teil.
Bei der Kreisspartakiade starten fast 15.000 Kinder und Jugendliche in 21 Sportarten und stellen 19 Kreis- und sechs Bezirksrekorde auf. Man bereitet die große Thomas-Müntzer-Ehrung in Stolberg vor. „Die Erfolge zum 40. können sich überall sehen lassen“, titelt die Lokalzeitung am 10. Oktober. (mz)
